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Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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du?»
    Ein Schweigen senkte sich auf ihren Onkel, das sein Gesicht zerbrechlicher denn je erscheinen ließ, und schattiger, wie es an jenen Abenden ihrer Kindheit gewesen war, da er abends an ihr Bett zu kommen pflegte, um ihr eine Geschichte vorzulesen und seinen Wunsch, daß sie schöne Träume haben möge, mit einem Kuß zu besiegeln. Während das Schweigen noch andauerte, trug Marias derzeitige Nachfolgerin gelangweilt das Dessert auf, fruta-do-conde mit Honigmelonensorbet in langstieligen Tulpengläsern. «Ich habe das nie verstanden», bekannte Onkel Donaciano schließlich. «Daß deine Tante mich verlassen hat, ist die Tragödie meines Lebens. Sie war schon über die Blüte ihrer Jugend hinaus, und nach allem, was ich aus Paris gehört habe, hat sie auch ohne mich ihr Glück nicht gefunden. Ein paar Affären mit verheirateten Männern, die es nicht über sich brachten, ihre Frauen zu verlassen, und dann Affären mit jüngeren Männern, die hinter ihrem Geld her waren. Und jetzt bleibt ihr gar nichts mehr, nicht einmal die Kirche, denn sie war nie gläubig.»
    Als die Pause, die folgte, zu lang wurde, sagte Tristão mit seiner ernsthaften, geschäftsmäßigen Stimme: «Der Glaube ist unverzichtbar. Ohne ihn gibt es zu viele Entscheidungen zu treffen, und jede einzelne erscheint zu wichtig.»
    Aber Onkel Donaciano starrte weiter auf Isabel. Seine feinen und erschöpften Gesichtszüge füllten sich mit den Schatten einer unausgesprochenen Sehnsucht, so wie damals, wenn er sie zu Bett brachte. Er fuhr fort: «Es gab zwei Liebestragödien in meinem Leben. Die zweite bestand darin, daß deine Mutter nie etwas für mich empfand, das auch nur um eine Spur über die freundschaftliche Höflichkeit hinausgegangen wäre, die eine Frau ihrem Schwager schuldet.»
    «Vielleicht kann die eine Tragödie die andere erklären», sagte Isabel. «Tante Luna hat gespürt, daß du meine Mutter liebtest.»
    Aber hier, an diesem so offensichtlichen Tor zur Wahrheit, wandte sich der alte Mann ab und schüttelte verzweifelt den Kopf. «Nein. Sie hat es nie gewußt. Ich wußte es ja kaum selbst.»
    « Bitte, erzähl mir von meiner Mutter!» rief Isabel mit einem Ungestüm, das Tristão irritierte. Er merkte, daß ihr der Rotwein und die Tatsache, für ein oder zwei Nächte von den Kindern befreit zu sein, in den Kopf gestiegen waren und daß sie ihrem Onkel wie ein kleines Mädchen schmeicheln wollte, indem sie mit ihm in die Vergangenheit zurückreiste. Sie ließ den Mund offenstehen, als wolle sie ihm ihre gewölbte, samtige Zunge zeigen. «Bin ich ihr ähnlich?»
    Unverwandt und traurig starrte Donaciano auf seine Nichte, auf die majestätische Wolke ihres krausen Haars und die großen Goldringe an ihren Ohren und ihre dunklen Arme im changierenden Braun von gebranntem Zucker, das bis zur halben Höhe der Unterarme unter glitzernden Armreifen verborgen war. Sie trug ein ärmel- und gürtelloses Schlauchkleid in Jadegrün, das ihrem Körper schmeichelte und ihn zugleich verbarg. Sie hatte zugenommen, aber nicht mehr als fünf Pfund. «Du hast ihr inneres Wesen», antwortete er endlich, «und dazu die Entschiedenheit der Lemes. Sie war die Art von Frau, die nur in einem Harem herumliegen kann. Es hieß, daß der Stamm der Andrade Guimarães maurisches Blut in den Adern hatte. Sie konnte überhaupt nichts – kein Ei kochen, keinen Brief schreiben, keine Abendgesellschaft organisieren. Sie konnte nichts zur Karriere deines Vaters beitragen. Sie konnte, beim zweiten Versuch, nicht einmal mehr ein Kind zur Welt bringen. Selbst als sie noch lebte, Isabel, überließ sie ihre Mutterpflichten den Hausmädchen und Tante Luna. Wenn meine Frau bei dir war, konnte sie sehr zärtlich sein. In deiner Entschlossenheit und deinem nervösen Temperament schlägst du Tante Luna nach, aber in deinem sinnlichen Wesen bist du ganz die unvergleichliche Cordélia.»
    Mit einer Spontaneität, von der sie sicher war, daß ihr Mann sie liebenswert finden würde, streckte Isabel ihre Hand über die Ecke des Eßtischs aus – sie war an der Schmalseite plaziert worden, damit beide Männer etwas von ihr hatten – und packte Tristãos helle Hand mit ihren Fingern, die oberhalb der fahlen Nägel so schwarz wirkten wie die teerigen süßen cafezinhos, die in kleinen, hohen Tassen serviert worden waren. «Hörst du das, Tristão? Wir haben etwas gemeinsam – schlechte Mütter!»
    «Meine Mutter war nicht schlecht. Sie hat das Beste getan, was ihr unter den

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