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Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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bedrückenden Umständen möglich war», sagte Tristão mürrisch.
    Aber sie wollte sich den Gleichklang mit ihm nicht nehmen lassen. Sie spürte, daß er auf Distanz gegangen war, aber sie ließ es nicht zu. «Siehst du! Das haben wir auch gemeinsam: Wir haben sie geliebt! Wir haben unsere schlechten Mütter geliebt!»
    Die Kaffeetasse vor dem Mund, so daß sein schmaler Schnurrbart von ihr verdeckt wurde, ließ Onkel Donaciano seinen Blick zwischen seinen jungen Gästen hin und her schweifen; er merkte, daß sie hier, in dieser Umgebung, in der Isabel sich mehr zu Hause fühlte als Tristão, einen kleinen Kampf miteinander ausfochten. Besänftigend schaltete er sich ein: «Wir alle sind Kinder dieser Erde, und auch sie könnte man als schlechte Mutter bezeichnen. Es ist unser Triumph, daß wir sie lieben, daß wir das Dasein lieben.»
    Sie saßen noch lange zusammen, und Isabel und Onkel Donaciano schwelgten in Erinnerungen an Isabels Mutter, an die Tage, da Rio glänzte wie ein funkelndes Stück Muranoglas, an die Urlaubsreisen nach Petrópolis, um der sommerlichen Hitze zu entgehen. Petrópolis! Die glanzvollen kaiserlichen Gärten, in denen einst Dom Pedro selbst flaniert war, begleitet von seiner Kaiserin Teresa Christine und seiner eigenwilligen Tochter, der berühmten Isabel, die es sich nicht verbieten ließ, mit dem Ingenieur André Rebouças zu tanzen, der ein Mulatte war, und die als Prinzregentin das Ende der Sklaverei verkündete. Ach, die Kanäle und Brücken dieser Stadt, ihre Plätze und Parks, die so europäisch wirkten in ihrer Verfeinerung und ihrem Charme; die neogotische Kathedrale und die genaue Nachbildung des Londoner Glaspalasts; die Aussicht auf die Berge, vom Restaurant aus, sogar mit einem fadendünnen Wasserfall im Blickfeld! Begierig versetzte Isabel sich mit Hilfe ihres Onkels in jene verzauberten Tage des gemeinsamen Familienurlaubs zurück, als ihr Vater neben ihr am schneeweiß gedeckten Restauranttisch saß und die hagere, amüsante Tante Luna ihr beibrachte, welche Gabeln man wozu verwendete. Sie war ein kostbares kleines Mädchen gewesen, in gestärkten Rüschenkleidern, umgeben von sich verbeugenden Kellnern und leiser Musik, geborgen in einem funkelnden, plätschernden, blumenduftenden Schoß – Brasilien als einem Europa ohne Hektik und ohne Schuld. Ach, dieser Tag, als ein Sturm das Zelt im Hotelgarten umblies; der Tag, als Senhora Wanderleys weißer Pudel den Mann am Grill biß; der Tag, als Marlene Dietrich und ein Gefolge von Deutsch-Brasilianern in der Belle Meunière dinierten!
    Tristão saß dabei und hörte zu und wurde unruhig. Er hatte wenig dazu beizutragen. Ihre Welt war nicht die seine gewesen. In São Paulo hatte er sich eine eigene Vergangenheit geschaffen und konnte sich, mit den gemeinsamen Freunden, in Erinnerungen verlieren, die bis zu zwölf Jahre tief hinabreichten. Hier blieb ihm, außer wenn Onkel Donaciano sich ihm zuwandte und, um ihn einzubeziehen, ein allgemeines Thema an den Haaren herbeizog («Was erwartet man sich eigentlich in der Industrie vom neuesten Preisstopp?» – «Seht ihr jüngeren Leute die Möglichkeit einer freien Wahl des Präsidenten mit ähnlicher Sorge wie ich?»), nichts anderes übrig, als eine Havannazigarre zu paffen und sich tiefer in den knarzenden Ledersessel sinken zu lassen und seine Beine auszustrecken, deren Muskeln vor Sehnsucht nach Bewegung zuckten. In seiner erzwungenen Muße beobachtete er Isabel, ihr taufrisches Gesicht, verloren an einen Traum von ihrer Kindheit, auf der Suche nach einem Idyll. Sie hatte die Schuhe ausgezogen und ihre entblößten Beine mit den eleganten, zweifarbigen Negerinnenfüßen auf dem karmesinroten, kurvenreichen Sofa untergeschlagen. Tristão empfand die Wärme zwischen ihr und ihrem Onkel als belastend, als ähnlich unbekömmlich wie den Zigarrenrauch. Dies hier war ihre Welt gewesen, eine verzauberte Welt. Was hat sie damals von mir gewollt? fragte er sich hinter seinen Rauchschwaden. Einzig und allein seine Yamswurzel. Den Schwanz eines Fremden. Der die Schmutzarbeit der Natur verrichtete.
     
    Endlich war es soweit, und ihr Gastgeber, dessen gestreiftes Haar sich nun in fiederigen Büscheln sträubte, taperte ins Bett. Das Paar zog sich in sein Schlafzimmer auf der Galerie des Appartements zurück, gleich hinter Isabels ehemaligem Mädchenzimmer, das Maria während ihrer kurzen Herrschaft als Dame des Hauses in eine Abstellkammer verwandelt hatte. Die Fenster waren bis obenhin von

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