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Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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genügten ihm, um den schalen Dunst von Isabels Vergangenheit, die schwelende Erkenntnis, daß mehr an ihr war, als er jemals besitzen konnte, aus seinem Kopf zu vertreiben. Und auch die Erkenntnis – die zu seiner Depression an diesem Abend beigetragen hatte –, daß sein Versuch, sie zu besitzen, seinem Leben eine nicht mehr korrigierbare Gestalt gegeben hatte, eine Gestalt, die befleckt war von der Schuld des Mordes und des feigen Verlassens.
    Er wollte diese verworrenen, nutzlosen Grübeleien aus seinem Kopf vertreiben, denn auch er sehnte sich nach der Unschuld von früher. Er hatte die Avenida überquert und trat vom Bürgersteig hinunter in den Sand. Er setzte sich auf eine Bank, zog seine schwarzen Schnürschuhe und die gerippten Seidensocken aus und versteckte sie unter einem Stranderbsenstrauch neben der Bank. Es kam ihm wie ein Wunder vor, daß diese kleinen Büsche und Sträucher von Stranderbsen und Seetrauben hier immer noch wuchsen, 1988 wie 1966, trotz all der Füße, die diesen Weg beschritten hatten.
    Für seine nackten Sohlen fühlte sich der Sand lauwarm an, und etwas tiefer, unter der dünnen Schicht der von der Sonne aufgeheizten Körner, war er kühl. Auf den beleuchteten Strandabschnitten waren mehrere Fußballspiele im Gange, ausgetragen von den dünnen, zappeligen Silhouetten heimatloser Slumkinder. Tristão ging tiefer in das Dunkel hinein, auf die Wassergrenze zu, wo die sich brechenden Wellen in schaumigen Streifen ausliefen. Das endlose Rauschen der Brandung, das rhythmische Atemholen des Ozeans überlagerte die metallischeren Verkehrsgeräusche und die Lautsprechermusik, ohne sie ganz zu ertränken.
    Wie ein unbeholfen zusammengebauter Drachen stand das Kreuz des Südens, klein und zerbrechlich und ohne einen Zentralstern, tief am mondlosen Himmel. Weiter oben, wo sie den Widerschein der nächtlichen Copacabana durchdringen konnten, spannten andere Sterne ihre starren und zufälligen Muster aus uraltem Licht auf. In den kleinen Wellen, die sich an Tristãos Füßen brachen, funkelte ein kurzlebigeres Licht und verlosch, wo der Sand die Welle aufsog. Diese Reflexe waren wie Geister, sie waren Geister, so kam es Tristão vor, nicht weniger lebendig als er. Er ging weiter, zwischen winkenden Gespenstern aus strömendem Schaum, er fühlte, wie der durchtränkte Sand an seinen Füßen saugte, ihn tiefer oder weniger tief einsinken ließ, und wie vorwitzige Wellen an seinen Knöcheln leckten – all die Empfindungen der Kindheit, als dieser Strand und der Blick, der sich von der Hütte aus bot, die einzigen Privilegien seines Lebens gewesen waren.
    Dann, an einer Stelle, die besonders weit von der belebten Avenida und ihren Lichtern entfernt war, so daß sich der gewundene Schaumstreifen seinen geweiteten Pupillen mit einer Strahlkraft darbot wie nie zuvor, tauchte plötzlich ein menschlicher Schatten vor ihm auf, und zwei weitere waren hinter ihm. Ein mittelgroßes Messer reflektierte Sternenlicht auf seiner Klinge. «Die Armbanduhr!» radebrechte eine dünne, aufgeregte Kinderstimme, vorsichtshalber in zwei Sprachen, Englisch und Deutsch.
    «Sei kein pentelho », sagte Tristão zu der jähen Erscheinung. «Ich bin einer von euch.»
    Sein dunkler, flüssiger Carioca-Tonfall ließ den Angreifer zögern, aber nicht an seinem Vorsatz irre werden. «Armbanduhr, Brieftasche, Kreditkarten, Manschettenknöpfe, her damit, schnell», sagte der Junge und fügte, wie um seine kindliche Stimme nicht außer Kontrolle geraten zu lassen, hinzu: «Du filho da puta! »
    «Du willst mich beleidigen, aber du sprichst nur die Wahrheit», erwiderte Tristão. «Geht heim zu euren eigenen Hurenmüttern, dann werde ich euch nichts tun.» Seine Erwachsenenstimme bebte unter dem Adrenalinstoß, der ihm kämpferisch in die Brust fuhr. Er spürte die Spitze eines zweiten Messers zwischen seinen Schulterblättern und die Hand eines dritten Burschen, die flink und lautlos wie ein Gecko an der Wand in sein Jackett fuhr und die Brieftasche herauszog. Dieses dreiste Kunststück – als würde eines der Kinder, die er nie gehabt hatte, mit Papas Kleidung spielen – kitzelte und erzürnte ihn zugleich. Auf der fernen Avenida wendete ein Auto, und die huschenden Scheinwerferkegel rissen das Gesicht des Schattens vor ihm aus der Dunkelheit – das schweißglänzende, von nervöser Spannung überströmte Gesicht eines jungen Schwarzen. Tristão konnte sogar den Aufdruck auf dem dunklen T-Shirt entziffern, der in weißen

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