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Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Atems ihrer Mutter vorgekommen, der warm über die Linse hauchte.
    Doch solche Mysterien, solche alten Romanzen verblassen und werden für die Jugend schließlich so bedrückend wie die Fotos des alten Rio de Janeiro mit seinen Straßenbahnen und überholten Kleidermoden, wie sie an den Wänden von Restaurants hängen, die ihrer eigenen Vergangenheit nachtrauern.
    «Sie hat die Herzen von allen gebrochen, die sie gesehen haben», sagte Onkel Donaciano. «Sieh dir nur deinen Vater an. Er hat nie wieder geheiratet. Er ist nur noch ein wandelnder Schrein der Erinnerung an deine Mutter. Sei klug, Isabel, und eifre ihm nicht nach in dieser Narretei, die ihn vor der Zeit zu einem alten Mann gemacht hat. Stürz dich ins Leben. Genieße die Liebe mit vielen Männern, ehe du stirbst. Dieser Strandstrolch war nur der Anfang. Geh nach Europa. Versuch dich als Opernsängerin.»
    «Aber ich habe keine Stimme.»
    «Die Callas hat auch keine. Was sie hat, ist Ausstrahlung.»
    Er hatte, vielleicht zufällig, vielleicht in guter Absicht, das Tabu gebrochen und ihren Geliebten erwähnt. «Um zum Thema Strolch zurückzukommen, Onkel», wagte sie sich, betont beiläufig, weiter vor, «was hört man Neues aus São Paulo? Ist dem armen Jungen irgend etwas Übles zugestoßen, den ich so leichtfertig in unser gemeinsames Heim geladen habe? Ach, wie mir unser Appartement fehlt. Brasília ist die Hölle, nur langweiliger, als ich mir die Hölle vorstelle. Diese Stadt ist auf die heiße Ebene geklatscht worden wie ein Ei in die Bratpfanne.»
    Sein verfeinertes Gesicht, in das Jahrzehnte der Vergnügungssucht und eines überzeugten Egoismus ihre Spuren eingegraben hatten, wurde ernst. «Ich höre gar nichts aus São Paulo, meine Liebe. Diese Stadt ist eine andere Art von Hölle, eine Demonstration, monströs in ihrer Häßlichkeit, unserer verrückten Sehnsucht, um jeden Preis ein Industriestaat zu werden und alle Fehler der seelenlosen Menschenschinder nördlich des Äquators zu wiederholen. Eine Welt, die einst so grün, so voller Zauber war, ein buchstäbliches Paradies, wird unendlich häßlich, Isabel. Ich empfinde kein Bedauern darüber, daß ich in meinem Leben nicht mehr viel davon sehen werde.» Während er den Stummel einer aufgerauchten Zigarette in seiner Spitze durch eine neue ersetzte, rang er sich, obwohl kaum älter als vierzig, ein tödlich krankes Hüsteln ab. Zum erstenmal, seit sie ihn bewußt wahrnahm, wirkte er ein wenig nachlässig und erschöpft – die Aufschläge seiner eiskremfarbenen Hosen waren beschmutzt, und an einem Jackenärmel fehlte ein Knopf. Man begann ihm anzusehen, daß sich keine Ehefrau um ihn kümmerte.
    Für Isabel war es eine seltsame Erfahrung, die beiden Leme-Brüder nebeneinander zu sehen. Onkel Donaciano ließ ihren Vater noch kleiner, noch gnomenhafter mißgestaltet wirken als je zuvor – und auch skrupelloser, blindwütiger in seinem Fleiß und amtlicher. Trotzdem waren sich die Brüder ähnlich, und nach dem Essen, bei einem Weinbrand oder einem hohen, konischen Glas Cerma-Bier in der Bibliothek, war manches gleichgesinnte Murmeln zu vernehmen, während Isabel in einem Bildband über die Malerei des Quattrocentro voller tödlich starrer Madonnen und verhutzelter Jesusknaben mit knopfgleichen Wiwis blätterte – wie langweilig, wie staubtrocken konnte doch sein, was gemeinhin als Wissenschaft galt, wie sehr Vergangenheit im Vergleich zu allem, was sie mit Tristão erlebt hatte oder aus den Liedern von Chico Buarque heraushörte, die in lyrischer Verkleidung Andeutungen eines Aufstands gegen das Militärregime durch die Zensur zu schmuggeln wußten, oder sogar in den Seifenopern im Fernsehen spürte, deren Darstellerinnen und Darsteller so jung waren wie sie selbst. Hier war die Gegenwart, gesättigt mit Zukunft, eine noch unerforschte Zeit unendlich sich erweiternder Möglichkeiten. Es war seltsam, ihren Vater und ihren Onkel nebeneinander zu sehen und sich zu fragen, ob sie jemals in einer Frau ähnliche Gefühle erweckt hatten wie Tristão bei ihr. Es schien unmöglich, und doch gab es Momente, da die beiden Männer unvermittelt in ein gemeinsames Lachen ausbrachen und eine konspirative Fröhlichkeit aufblitzte wie ein Riß, der tief in ihre gemeinsam verbrachte Kindheit zurückreichte. In solchen Augenblicken begriff sie ihre brüderliche Männlichkeit, die achtunggebietende Komplizenschaft.
     
    Eines Abends, nachdem ein Besuch ihres Onkels mit dessen Rückflug nach Rio geendet hatte, rief

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