Bratt, Berte - 01 - Das Herz auf dem rechten Fleck
herabbrennt, schlafe ich.“
„Heute bist du also schon vor Sonnenaufgang unterwegs gewesen?“
„Ja - in meiner Naivität habe ich geglaubt, ich würde Steinböcke zu sehen bekommen, aber.“
„Ja, da warst du wirklich naiv. Da mußt du warten, bis es eines Tages ein Mordsunwetter mit Gewitter und Regen gibt. Dann ziehen sie tiefer. Wenn du dann am nächsten Morgen frühzeitig unterwegs bist, hast du die Möglichkeit, sie auf der Ostseite der Aiguille d’Or zu beobachten.“
„Du scheinst dich hier gut auszukennen! Wenigstens habe ich heute einen prachtvollen Sonnenaufgang filmen können; danach habe ich mucksmäuschenstill zweieinhalb Stunden vor einem Steinhaufen gesessen und auf ein Wiesel gewartet - aber als das kleine Biest endlich erschien, bekam es Witterung von mir und verschwand wie der Blitz, bevor ich auch nur einen Zentimeter Film aufgenommen hatte.“
„Du mußt eine sagenhafte Geduld besitzen“, meinte ich und dachte wieder an seinen Kastanienbaum. Asbjörn lächelte.
„Hat man keine Geduld, braucht man mit dem Filmen gar nicht erst anzufangen“, antwortete er. „Geduld und kräftige Muskeln, die braucht man - mindestens, wenn man in den Bergen filmt. - Und schwindelfrei muß man auch sein.“
„Bist du das?“
„Ja, Gott sei Dank.“
„Ich auch.“
„Das ist gut. Hast du auch Geduld?“
„Ja, wenn es darauf ankommt, kilometerlange Säume zu nähen und tausend kleine Falten an einer Bluse anzubringen.“
„Und sonst nicht?“
„Nein, absolut nicht! Bei mir geht immer alles schnell und wie der Teufel.“
„Schade“, meinte Asbjörn, „es wäre sonst so nett gewesen, wenn du mich einmal früh begleitet hättest, um auf das Wiesel zu warten.“ „Aber das kann ich doch trotzdem.“
„Ohne Geduld?“
„Tja“, sagte ich, „vielleicht könntest du es mir beibringen, geduldig zu sein?“
Seine Augen fanden die meinen, und er lächelte mich über den Tisch hinweg an.
„Eigentlich ist es komisch, Bernadette“, meinte er. „Wir haben uns vorher nur ein einziges Mal getroffen, und nun sitze ich hier und habe das Gefühl, als wäre ich einer guten, alten Freundin begegnet!“ „Das Gefühl habe ich auch. Aber so ist es wohl immer, wenn man im Ausland Landsleuten begegnet.“
„Das möchte ich nun nicht unbedingt behaupten. Was haben wir das letzte Mal abgemacht? Daß du zum Herbst einen neuen Anorak für mich nähen solltest?“
„Ja, und daß ich Kleider für alle deine Kinder nähe, wenn du heiratest.“
„Wenn ich heirate? Das ist doch wohl ein närrischer Gedanke.
Wer sagt denn, daß ich heiraten werde?“
„Deine Tante hat damals davon geredet, ,wenn du heiratest’.“ „Ach, meine Tante! Das hat sie so dahergeredet! Nein, am ganzen Horizont ist keine Braut zu sehen. Du mußt noch eine gute Weile warten, bis du diese Kinderkleider nähen kannst.“
„Dann werde ich mich also auf einen Anorak im Jahr für dich beschränken müssen“, antwortete ich. Plötzlich war mir wunderbar leicht ums Herz.
„Man stelle sich nur vor“, sagte Asbjörn, als er den Anorak anzog, „daß wir einander vielleicht niemals begegnet wären, hätte es nicht diesen Webfehler gegeben!“
„Bestimmt nicht“, erwiderte ich. „Denn da wäre ich in die Küche direkt zu Lisette gegangen, hätte die Apfelsinen gekauft und nicht geahnt, daß ein Landsmann von mir in der Gaststube saß!“
„Ich sage ja“, lächelte Asbjörn, „nichts geht über diese Stoffe mit Webfehlern!“
Er hängte sich die schwere Kamera über die Schulter, und ich holte mir meinen Eispickel aus der Ecke.
Zusammen traten wir in den Sommertag hinaus, in die schimmernde weiße Welt der Alpen, die ich so sehr liebe. Die Sonne stand schon hoch am Himmel; ihre Strahlen fielen auf den Gipfel der Aiguille d’Or. Dieser goldene Schimmer, den er im Morgenlicht erhält, hat dem Berg seinen Namen gegeben.
„Sollen wir die Bahn nehmen, oder magst du laufen?“ fragte Asbjörn.
„Ich mag laufen. Und wenn wir sehr großes Glück haben, begegnen wir auf der Wegbiegung unterhalb des Wasserfalls zwei schwarzen Eichhörnchen. Ich habe sie schon oft dort gesehen. Wenn du also Lust hast, Eichhörnchen zu filmen.“
„Im Augenblick habe ich Lust auf alles“, sagte Asbjörn und nahm meine Hand.
So gingen wir Hand in Hand den schmalen Pfad entlang hinunter. Tief unter uns lag Villeverte und leuchtete in der Junisonne.
Hermelin und Sonnenaufgang
Das habe ich schon immer gesagt: Tante Cosima ist die beste
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