Bratt, Berte - 01 - Das Herz auf dem rechten Fleck
schloß sich um die meine. „Bernadette!“
„Ja?“
„Matterhorn!“ Ich hob den Kopf und blickte ihm ins Gesicht. Und da war alles Schwere wie weggeblasen. Ich sprang hoch und schlang die Arme um seinen Hals. „Ach, Asbjörn! Ich liebe dich so sehr!“
„Und ich dich!“
„Und jetzt müssen wir zu den Steinböcken!“
„Das müssen wir.“ Es war mühsam, die letzten Meter hinaufzukriechen. Aber dafür hatten wir nun die Felswand genau gegenüber und konnten das Stativ aufstellen. Ich blickte durch den Feldstecher, während Asbjörn die Kamera herrichtete. Dann zupfte ich ihn am Ärmel, machte ihm ein Zeichen und gab ihm den Feldstecher.
Wir hatten uns eine Art Zeichensprache zugelegt; Asbjörn machte die Handbewegung, die bedeutete: „Zu weit weg, wir müssen warten.“
Hier oben war es naß, zu naß, um sich zu setzen. Es ist sehr ermüdend, Minute um Minute still zu stehen, eine Viertelstunde nach der anderen am gleichen Fleck. Abwechselnd blickten wir durch den Feldstecher. Dort drüben rührte sich etwas, richtig - ein paar prachtvolle lange Hörner, ein Kopf, der hinter einem Stein auftauchte - wir standen mindestens zweihundert Meter entfernt, aber trotzdem wagten wir kaum zu atmen.
Dort! - Nun fielen die Strahlen der Sonne auf den Mittelteil der Bergwand - und fast hätte ich einen Schrei ausgestoßen. Denn jetzt trat der große Steinbock völlig hervor und ging ein Stück weiter abwärts, auf die Mitte der Felswand zu - und hinter ihm kamen noch mehr - wahrhaftig: ein Muttertier mit einem Jungen. Auf einem Vorsprung fanden sie etwas Gras und begannen friedlich und in aller Ruhe zu äsen. Die Kamera surrte ihre leise Melodie, gleichmäßig und beruhigend. Nun tat das Junge ein paar Sprünge, und das Teleobjektiv folgte jeder Bewegung.
Das Rudel zog sich zurück und entfernte sich aus unserem Blickfeld. Asbjörn lächelte mich an, und ich drückte seine Hand.
Weit in der Ferne hörten wir das schwache Geräusch der Seilbahn. Die erste Kabine schwebte nach oben. Ich blickte auf die Uhr.
Halb neun.
Ich flüsterte Asbjörn ins Ohr:
„Du! Ich brauche eine Stunde bis zur Zwischenstation Ecueil Marmotte, weißt du, ich glaube, ich muß jetzt aufbrechen.“
„Ich danke dir, daß du mitgekommen bist, Liebling, und denk an das, was ich dir gesagt habe!“
„Was hast du gesagt?“
Da flüsterte er mir ganz leise ins Ohr: „Matterhorn!“
Um mich her waren die Frische des Morgens und Sonnenschein, Berggipfel und springende Bäche. Einmal huschte eine Kreuzotter über den Pfad. An einem Bach legte ich mich auf den Bauch und trank; ich trank wie ein Tier, mit dem Mund in dem eiskalten, sprudelnden Wasser. Nicht weil ich durstig war, sondern weil das reine Bergwasser so wunderbar schmeckt.
Zum erstenmal ging ich allein so weit oben in den Bergen. Bis dahin war ich stets mit Onkel Ferdinand oder mit Tony gegangen -oder mit Asbjörn. Ich kam mir dort klein vor, so demütig klein in der überwältigenden Natur. Ich war in einer sonderbaren Stimmung. Ein tiefes, inniges Glück erfüllte mich. Ein ganz neues Glücksgefühl, wie ich es niemals zuvor erlebt hatte.
Auf einmal blieb ich stehen. Plötzlich verstand ich Asbjörn. Ich verstand, daß er gern allein durch die Berge ging. Denn diese erhabene Einsamkeit, dieser Kontakt mit der Natur und diese unfaßbare Stille - sie ließen sich mit nichts vergleichen.
Ich ging langsamer. Ich wollte diese Wanderung in die Länge ziehen, sie so lange wie möglich genießen.
Und trotz allem - eine tiefe Freude durchzog mich - , trotz allem wollte Asbjörn mich doch am allerliebsten bei sich haben!
Ich lächelte vor mich hin, während ich den schmalen gewundenen Pfad entlang ging. Ich war nun auf den Hauptpfad gelangt, der in vielen steilen Kurven nach Villeverte hinabführte. Ich spürte die Anstrengung schon in den Beinen. Und im Grunde war ich ganz froh, daß ich nun die Seilbahn nehmen konnte.
Die Seilbahn! Ich hatte kein Geld bei mir! Auch das noch! Das hatte ich völlig vergessen. Hätte es sich um die liebe kleine Bahn zur Silberhütte gehandelt, wäre es kein Problem gewesen, Carlo hätte mir bestimmt Kredit gegeben - aber mit der feinen Bahn nach der Aiguille d’Or stand ich nicht so auf Du und Du - das war eine schöne Bescherung! Es blieb mir nichts übrig, als zu gehen.
Ich ging und ging. Nun schwebte eine Kabine über meinem Kopf hinweg hinab. Eine große Kabine für
zwanzig Fahrgäste. Sie war leer und sollte, hinab, um die ersten
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