Bratt, Berte 02 - Zwei Briefe fuer Britta
war?
Metro-Billette hatte ich haufenweise. Tante Edda hatte mir ihr ganzes Heft gegeben.
Was ich unter anderem noch nicht gesehen hatte, war die Vendome-Säule und das Hotel Ritz. Beides kannte ich aus einem Audrey-Hepburn-Film, nun konnte ich es ja in Wirklichkeit ansehen. Die Vendome-Säule, auf deren Spitze Maurice Chevalier gestanden hatte und durch die Hotelfenster spioniert hatte - er spielte einen Privatdetektiv.
Also zur Metro!
Als ich durch die Sperre ging, kam mir ein Gedanke! So lange ich unter der Erde blieb, konnte ich den ganzen Tag fahren und fahren. Es gab keine Billettkontrolle. Nur in der ersten Klasse wurde hie und da kontrolliert, damit die Leute nicht mit einem Zweiter-Klasse-Billett fuhren.
Wenn ich nun mit der Metro hin und zurück führe und unzählige Male umstiege? Nicht um die Zeit totzuschlagen - nein, um die Augen aufzusperren, verschiedene Sprachen zu hören, neue Typen zu sehen, kurz gesagt, einen großen Teil jenes Pariser Lebens zu studieren, das unter der Erde vor sich ging.
Gesagt, getan. Ich fuhr stundenlang, und das machte Spaß. Etwas, was bei uns immer ein Lächeln hervorlockte, waren die meterlangen Brote, die alle Menschen mit sich schleppten. Nicht nur Hausfrauen, sondern Männer und Kinder fuchtelten mit diesen dünnen und langen Dingern herum, immer uneingepackt, schrecklich unhygienisch. Aber wie Tante Edda eines Tages gesagt hatte: Im Anfang dachte ich an die schönen, sauberen, in Cellophan verpackten Brote zu Hause. Dann habe ich kapituliert. Diese langen, unhygienischen Brote gehören auch zur Atmosphäre von Paris.
Ich entschloß mich erst wieder, ans Tageslicht hinaufzugehen, als ich einen Mordshunger hatte.
Hoffentlich fand ich einen Maronenmann auf der Straße! Die Maronen waren billig und schmeckten großartig.
Nach zwanzig Minuten verließ ich die Metro. Auf dem Bahnsteig wimmelte es vor Menschen. Auf einer Bank saß der herrlichste Clochard, den ich je gesehen hatte. Groß und dick, mit einem dichten Bart und unwahrscheinlich dreckig. Sein zerlumpter Mantel wurde durch eine Riesen-Sicherheitsnadel zusammengehalten. Aus den zehenfreien Sandalen schauten ein Paar unglaubliche Strumpffüße heraus. Aus dem einen Strumpf suchte eine noch unglaublichere, große Zehe die Freiheit.
Oh, wenn Vati ihn gesehen hätte! Er hätte den Stift und sein Skizzenheft gegriffen und den halben Tag unter der Erde verbracht.
Ich weiß nicht, ob der Clochard gemerkt hatte, daß ich ihn anstarrte. Er hob die Hand mit einer vollendet ritterlichen Bewegung und sagte: „O là là - un rayon de soleil dans les ténèbres souterraines.“
Ich verstand es! Ich verstand es wirklich. Ein Sonnenstrahl im unterirdischen Dunkel. Der Sonnenstrahl war ich, ja ja. Es kommt nicht jeden Tag vor, daß man ein solches Kompliment von einem Kavalier zu hören bekommt!
Der Kavalier saß mit seiner zerknüllten Tüte in der Hand da. Jetzt sah ich, was es war. Es waren Maronen - warme Kastanien.
Ich mußte einfach ein paar Worte mit ihm wechseln. Er war zu herrlich in seinen Lumpen und seinem Schmutz und mit seiner blühenden Kavalierssprache. Ich versuchte, einen Satz auf französisch zusammenzustoppeln. Ob es richtig war, weiß ich nicht, aber mein Freund verstand ihn:
„Entschuldigen Sie, Monsieur, ich wollte gerade Kastanien kaufen; bekommt man die hier in der Nähe?“
„Mademoiselle will Kastanien kaufen? Mademoiselle, Kastanien sind für mich und meinesgleichen. Mademoiselle sollten Nachtigallenzungen essen und Champagner dazu trinken.“
„Mais pas pour le déjeuner“, sagte ich. „Aber nicht zum Frühstück.“
Diese Antwort fand der alte Lazzarone großartig, er schlug sich auf die Schenkel und lachte so sehr, daß es ihn schüttelte.
„Mademoiselle ist Ausländerin.“ Er betrachtete mich mit seinen erfahrenen beduselten alten Augen. „Zehn Centimes, wenn ich richtig rate?“
„Oui, Monsieur!“
„Deutsch“, sagte er, „Norddeutsch.“
Ich gab ihm zwanzig, da hielt er mir die Kastanientüte hin. „Nehmen Sie Platz, Mademoiselle, darf ich Ihnen eine Kastanie anbieten?“
Ach was, dachte ich, die Kastanien haben Schalen, und innen sind sie immer rein.
Dann saßen wir zusammen und teilten brüderlich den Inhalt der Tüte. Mein neuer Freund schwatzte bereitwillig.
„Ich bin Philosoph, Mademoiselle. Ich habe auf die Güter dieser Welt verzichtet, um das einzige große Gut genießen zu können: die Freiheit!“
„Wo wohnen Sie?“ fragte ich.
Er machte eine
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