Bratt, Berte - Lisbeth 01 - Meine Tochter Liz
– Himmel! – Es ist schon nach sieben! – Ich muß laufen! Auf Wiedersehen, Steffi!“
Wie war die Welt doch schön und gut! Beim Abwaschen summte ich vergnügt vor mich hin – was eigentlich nicht meine Gewohnheit war.
Nach dem Abwaschen setzte ich mich in einen bequemen Sessel, streckte die Hand nach dem Bücherbord aus und griff nach dem erstbesten Buch. Es war ein „Französisches Lehrbuch für das Gymnasium“. Ich blätterte darin. Wahrhaftig! Es begann mit einem Märchen, das ich als kleines Kind gelesen hatte und beinahe auswendig konnte. Wenn beim Abitur nicht mehr verlangt wurde, dann konnte das Examen im Französischen von mir aus schon am nächsten Tage losgehen.
„Steffi!“
Ich stand auf.
„Was ist, kleine Maus?“
„Was machst du?“
„Ich lese.“
„Was liest du?“
„Ein Märchen – ob du es nun glaubst oder nicht.“
„Lies es mir vor.“
„Das geht nicht, Lisbeth. Es ist ein französisches Märchen.“
„Dann kannst du es doch übersetzen.“
Welch ausgezeichnete Übung für mich! dachte ich. Ja. Ich mußte es versuchen.
Und so übersetzte ich denn das Märchen von den zwölf Monaten, die im Walde um ein Lagerfeuer versammelt waren – von „Bruder Juni“, der Erdbeeren herbeischaffte – von „Bruder September“, der für Äpfel sorgte – und von „Bruder März“, der mitten im Winter Veilchen hervorzauberte. Lisbeth lauschte mit kugelrunden Augen. Anfangs stotterte ich etwas, aber bald ging es recht gut. Jedenfalls stotterte ich nicht so arg, daß Lisbeths Interesse dabei erloschen wäre.
„Du, Steffi!“ sagte Lisbeth, als das Märchen zu Ende war. „Alle Stiefmütter sind doch nicht so schlimm? Sind sie das nicht bloß im Märchen?“
„Es gibt sicher sehr viele nette Stiefmütter.“
„So wie du zum Beispiel“, sagte Lisbeth.
„Ich?“ fragte ich.
„Ja. Denn für mich bist du doch eigentlich eine Stiefmutter.“
„Aber leider nicht immer eine nette“, sagte ich. Nun war der Augenblick zu einer Aussprache gekommen.
„Nur einmal warst du nicht nett“, sagte Lisbeth.
„Damals waren wir beide nur dumm“, sagte ich.
„Wieso dumm?“
Dann wiederholte ich, was Heming mir erklärt hatte – von der Abneigung – und von der Pflicht, sie zu beherrschen.
„Du kannst natürlich nichts dafür, daß du Herrn Lövold nicht leiden kannst…“
„Nein, dafür kann ich wohl nichts“, sagte Lisbeth, und es klang, als wollte der alte Trotz wieder hervorbrechen. Aber plötzlich lächelte sie:
„Ich werde höflich sein, Steffi, wenn Herr Lövold das nächste Mal kommt.“
„Herr Lövold kommt nicht mehr, Lisbeth.“
Ein strahlendes Lächeln verbreitete sich über Lisbeths Gesicht.
„Oh! Das ist schön!“
Sie blickte mich nachdenklich an. Dann sagte sie mit etwas unsicherer Stimme:
„Verzeihe mir, Steffi! Ich war gewiß sehr unartig. Sei mir nicht mehr böse!“
„Nein, kleine Lisbeth. Ich bin dir nicht die Spur böse. Aber du mußt mir versprechen, daß du es nicht wieder tun wirst.“
„Ja. Das verspreche ich dir“, sagte Lisbeth.
„Sieh mal, Lisbeth – es tut mir schrecklich leid, daß ich dich geschlagen habe. Du kannst mir glauben, daß ich es bitter bereut habe. Du mußt mir nun auch nicht mehr böse sein, Lisbeth.“
„Nein“, sagte Lisbeth großmütig. „Ich bin dir nicht mehr böse. Aber du mußt mir versprechen, daß du es nicht wieder tun wirst!“
Lisbeth hatte am Vorlesen Geschmack gefunden. Ich mußte täglich mehrere Stunden lesen. Ich las ihr nach und nach mein ganzes französisches Pensum vor. Es war leichter Stoff, den zu übersetzen Vergnügen machte. Und Lisbeth schluckte alles – Wort für Wort.
Und ich hatte einen herrlichen kleinen Plan. Ich wollte Heming bitten, mit mir weiterzuarbeiten, sobald Lisbeth wieder ganz gesund wäre. Heming selber sollte das Staatsexamen im Frühling machen. Lisbeth sollte in die zweite Klasse versetzt werden. Sollte ich die einzige sein, die kein Examen machte? Den Prüfungsstoff in Biologie prägte ich mir selber ein.
„Was liest du da, Steffi? Kannst du es mir nicht übersetzen?“
„Diesmal ist es Norwegisch. Aber ich glaube nicht, daß du es amüsant finden wirst.“
„Wovon handelt es denn?“
„Von etwas sehr Unappetitlichem – von Trichinen.“
„Was ist das?“
„Kleine ekelhafte Tiere, die im Schweinefleisch leben.“
„Ih! Wie sehen sie aus?“
„So.“ Ich zeigte ihr die Abbildung.
„Nie wieder esse ich Schweinefleisch“, erklärte Lisbeth
Weitere Kostenlose Bücher