Braut der Nacht
Na ja, vielleicht kein kompletter Tyrann. Er verhielt sich in der Öffentlichkeit tatsächlich anders als privat– wenn dem nicht so wäre, dann wäre Nathanial inzwischen tot. Aber ich hatte nicht erwartet, dass er die Art von Anführer war, der auf seine Berater hörte.
Die Hände flach auf den Tisch vor sich gelegt, sprach Nuri weiter. »Außerdem habe ich nun auch alle Vampire der Sammlerin befragt. Keiner hatte mit der Frau in den Stunden vor ihrem Tod noch Kontakt. Ein paar erinnern sich, sie gesehen zu haben, oder möglicherweise eine ihrer Schwestern, aber ansonsten hat sie niemand bemerkt, bis ihre Leiche gefunden wurde.«
Tatius nickte erneut. Dann schwenkte sein Blick zur Vordertür des Restaurants, als diese sich öffnete. Der große, schlicht gekleidete Vampir, der mich dabei ertappt hatte, wie ich mich ins Death’s Angel schlich, hastete herein und wich der Empfangsdame aus, die aufstand, um ihn zu begrüßen. Suchend ließ Liam den Blick über die Gäste schweifen und sah dabei vermutlich dieselbe vornehme Menge wie ich, als ich den Raum betreten hatte. Dann erstarrte er, und seine Augen wurden schmal. Er nickte knapp, als beantworte er eine ungehörte Frage– was vermutlich tatsächlich genau das war, was er tat.
Ich warf einen Blick zu Tatius. Kann er ebenso Gedanken lesen wie sie projizieren? Ich hatte keine Ahnung. Er zeigte keinerlei Anzeichen von beidem, sondern wandte sich an Nathanial, der aufgestanden war. Liam blinzelte, als sein Blick auf unserem Tisch landete. Eindeutig durchschaute er die Illusion. In seiner Hast, zu uns zu kommen, rannte er beinahe einen Kellner über den Haufen.
Tatius neigte den Kopf zur Seite. »Ja?«
Der große Vampir verbeugte sich tief. Dann hielt er ihm einen kompakten schwarzen zylindrischen Gegenstand hin. »Das hier haben wir gerade gefunden.«
Tatius’ Blick fuhr über den Tisch hinweg zu Nuri, die sich geschmeidig von ihrem Platz erhob und den kleinen Behälter an sich nahm. Er sah aus wie eine alte 35-mm-Filmdose. Es klapperte in seinem Innern, als Nuri Liam den Zylinder aus der Hand nahm, und das leise Pling zeigte, dass das, was immer sich auch darin befand, viel kleiner als eine Filmrolle war. Nuri entstöpselte den Plastikdeckel, und ihre Miene erstarrte. Sie wurde reglos, zu reglos, um für etwas vollständig Lebendiges gehalten zu werden.
»Was ist es?«, fragte das Ratsmitglied mit der beginnenden Glatze, das heute Abend wieder einmal Tweed trug.
Wortlos kippte Nuri den Behälter aus, und zwei elfenbeinfarbene Gegenstände rollten über das Tischtuch. Die kleinen Gegenstände, nicht länger als das letzte Glied meines kleinen Fingers, waren an einem Ende spitz und am anderen von einer verkrusteten, rostfarbenen Substanz überzogen. Ein Hauch von altem Blut traf mich, und ich zuckte zurück. Schützend schlang ich mir die Arme um die Brust und rückte näher zu Nathanial.
»Zähne.« Mein Flüstern war in dem düsteren Speisesaal kaum zu hören.
»Fangzähne.« Nathanials Stimme war ausdruckslos, ohne Gefühl, ohne Betonung, doch dieses eine Wort schien den Fluch zu brechen, der den Rat gefangen hielt.
Plötzlich sprachen alle auf einmal.
»Wo habt ihr das gefunden?«
»Wissen wir, wem sie gehören?«
»Etwas Derartiges hat Mama Neda noch nie gesehen.«
»Welche Vampire fehlen?«
»Ruhe.« Tatius schrie nicht– das musste er auch nicht.
Die Ratsmitglieder verstummten, und selbst die leisen Unterhaltungen der anderen Gäste verebbten. Er streckte die Hand nach einem der Fangzähne aus und hob ihn auf. Nachdenklich rollte er ihn zwischen den Fingern und starrte ihn an, als könne ihm der Zahn sagen, zu wem er gehört hatte.
»Ist noch irgendetwas anderes in dem Röhrchen?«, fragte er, nachdem mehrere Sekunden verstrichen waren.
Nuri warf einen Blick hinein, dann fischte sie mit zwei zierlichen Fingern etwas Flaches aus dem Röhrchen. Sie entrollte etwas, das wie ein dickes Stück Papier etwa von der Größe meiner Handfläche aussah. Als sie es Tatius reichte, beugte ich mich vor und spähte über seine Schulter auf das zerknitterte Foto.
Ein Körper beherrschte das Bild, als hätte der Fotograf bewusst den Fokus auf das nackte Hinterteil und den muskulösen Rücken seines Motivs gelegt. Männlich, eindeutig. Und kopflos.
Ich schluckte das aufkeimende Gefühl von Panik hinunter, das mir in die Kehle zu steigen drohte. Das Bild war schwarz-weiß– oder zumindest größtenteils einfarbig. Jemand hatte sich die Zeit genommen, das
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