Braut von Assisi
Alleinsein etwa mit gefährlichen Träumen? Leo beschloss, ihn direkt darauf anzusprechen, verschob es aber auf später.
Als er schließlich alles durchkämmt hatte, war er todmüde und von Kopf bis Fuß schmutzig. Während er sich am Brunnen gründlich reinigte, kam ihm der Sonnengesang des Heiligen in den Sinn. Wie konnte Franziskus die göttliche Schöpfung so tief und anrührend loben und gleichzeitig zulassen, dass Brüder seines Ordens in solch einem Elend hausten? War der Leib wirklich nur »Bruder Esel«, ein wertloses Gefäß, das keinerlei gute Behandlung verdiente, weil es irdisch, vergänglich und demnach nichts wert war?
Etwas in Leo begann aufs heftigste dagegen zu rebellieren.
Gefunden allerdings hatte er nichts, was wiederum Padre Stefano spürbar zu erleichtern schien. Vielleicht musste er morgen noch einmal einen neuen Anlauf nehmen und mit seinen mühsam zusammengekramten italienischen Wörtern versuchen, etwas aus Stefano herauszubekommen. Der Eremit wusste mehr, als er zugab, das war unübersehbar. Doch warum sperrte er sich dann so beharrlich, auch nur das Mindeste davon preiszugeben? War es lediglich Misstrauen gegenüber dem fremden Ermittler? Gab es jemanden, den Stefano schützen wollte? Oder band ihn ein Versprechen, das er nicht brechen konnte?
Und dann gab es da noch jenen seltsamen schwarzen Reiter, der etwas in Leo ausgelöst hatte, was er nicht genau benennen konnte, etwas Vertrautes und gleichzeitig Gefährliches,
das sich aber wie hinter einem dunklen Vorhang verbarg, sobald er danach greifen wollte. Hatte er den Mann nicht schon einmal gesehen? Oder handelte es sich um ein Urbild des Schreckens, das jeder in sich trägt?
Angefüllt mit drängenden Fragen, für die er keine Lösung fand, wälzte Leo sich ruhelos auf dem harten Untergrund. Nur eine zerfranste Decke trennte ihn vom blanken Felsen, auf dem schon Francesco und die ersten Brüder geschlafen hatten, wie Stefano ihm mit schiefem Grinsen versichert hatte. Leo dagegen tat nach Kurzem jeder einzelne Knochen weh. Er hatte sich stets für bescheiden und abgehärtet gehalten, doch dieses unbarmherzige Nachtlager grenzte an eine Tortur.
Irgendwann gab er auf, öffnete seine Zellentür und trat mit einem Seufzer der Erleichterung ins Freie. Draußen empfing ihn laue Nachtluft. Es war so still, dass der eigene Herzschlag ihm überlaut erschien. Der Mond, bereits weit nach Westen gewandert, stand zwischen den funkelnden Sternen als zarte silberne Sichel am Himmel.
Unschlüssig machte Leo ein paar Schritte, um alsbald wieder innezuhalten. Irgendwo dort unten im Dunkeln musste die Hütte sein, in der Stella schlief. Morgen würde er sie noch einmal in aller Eindringlichkeit bitten, die Einsiedelei zu verlassen und nach Assisi zurückzukehren, auch wenn ihm beim Gedanken daran das Herz zu zerspringen drohte. Vielleicht sollte er ihr anbieten, auf seiner Rückreise mit ihren Eltern zu sprechen.
Er ging weiter bergab, langsam, um nicht zu stürzen.
Sie durften Stella nicht gegen ihren Willen ins Kloster stecken! Das war nicht die Art von Dienst und Hingabe, die Gott sich wünschte, dessen war er sich gewiss. Aber wollte der Allmächtige ihn überhaupt noch als seinen Diener? Ein Mönch, der das Gebot der Keuschheit verletzt
hatte und sich unfähig fühlte, auch nur die Spur von Reue zu empfinden?
Und was genau sollte er Stellas Zieheltern sagen? Dass sie in seinen Armen die Liebe entdeckt hatte und sich seitdem noch weniger als zuvor zur Nonne berufen fühlte? Er hatte ihr nichts zu bieten – und hätte ihr doch am liebsten alles gegeben.
Stella! Stella! Wie gern hätte er ihren Namen laut in die Nacht gerufen, jenen Namen, der in seinem Blut kreiste wie süßer schwerer Wein und der ihn nicht mehr losließ, wohin auch immer er sich flüchtete …
Sein Fuß war an etwas Weiches gestoßen. Er hielt erschrocken inne.
Ein Tier? Noch bevor sie zu sprechen begann, wusste Leo bereits, dass nur sie es sein konnte.
»Leo? Aber was machst du …«
»Scht!« Er kniete neben ihr, sog ihren warmen Duft ein. Sie roch nach Sommer. Ganz leicht nach Salz. Nach Frau, so warm und verlockend. Alles in ihm sehnte sich danach, in ihr zu versinken. »Wir müssen leise sein!«
»Ich konnte nicht schlafen«, hörte er sie murmeln. »Nicht in dieser stinkenden alten Hütte.«
»In der Zelle gibt es nur blanken Fels«, flüsterte Leo. »Ich fürchte, ich bin einfach nicht zum Heiligen berufen.«
Stella lachte hinter vorgehaltener Hand. Dann
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