Braut von Assisi
bestürzt, während Leo sich bekreuzigte.
Sie stiegen ab, liefen zu ihm. Seine Augen waren gebrochen, der Mund leicht geöffnet, wie im Schrei erstickt. Die rechte Schläfe des Eremiten war blutverkrustet. Mit dicken Seilen hatte man seine Arme und Beine an die geschälten Balken gebunden.
»Die hat er vor einigen Tagen noch selbst aus dem Wald hergeschleppt«, sagte Stella. »Ich hab gesehen, wie er sie vor dem Kloster abgeschält hat – stundenlang! Wenn er geahnt hätte, dass sie einmal …« Sie presste sich die Hand auf den Mund.
»Aber an der Kreuzigung ist er vermutlich nicht gestorben. « Leo hatte bereits damit begonnen, den Toten näher zu untersuchen. »Siehst du das hier? Die Strangspuren an seinem Hals? Und wie blau und aufgedunsen sein Gesicht ist!«
Stella nickte beklommen. »Seine Augen sind ganz rot«, flüsterte sie. »Als ob er lauter Tränen aus Blut geweint hätte.«
»Man hat ihn offenbar mit einem Seil erdrosselt. Ich nehme an, er war bereits tot, als man ihn ans Kreuz gebunden hat«, sagte Leo.
»Aber weshalb? Wer ist zu so etwas fähig?«, fragte Stella, der Tränen über die Wangen liefen.
»Es gibt Menschen, die voller Finsternis sind, besessen von krankhaften Ideen, die sie zum Töten veranlassen. Mit solchen Menschen haben wir es hier offenbar zu tun. Denn inzwischen steht für mich fest, dass es mehrere sein müssen. Ein Mörder allein hätte das hier nicht bewerkstelligen können.« Die steile Falte zwischen seinen Brauen war tiefer geworden. »In diesem Zusammenhang erscheint mir die Steinlawine, unter der Sebastiano sein Leben verloren hat, allerdings auch in neuem Licht. Sie könnte durchaus mutwillig ausgelöst worden sein. Dann wäre es kein Unfall gewesen, sondern ebenfalls Mord.«
»Das klingt ja schrecklich!«, rief Stella. »Aber sieh doch nur – überall Fliegen! Wir müssen Padre Stefano vom Kreuz nehmen und zur letzten Ruhe betten. Die Insekten machen sich ja schon in Scharen auf ihm breit.«
»Ich fürchte, das werden wir den Leuten aus Rieti überlassen müssen.« Leo lief zum Kloster, kam aber nach Kurzem wieder zurück. »Dort drinnen ist alles auf den Kopf gestellt. Offenbar haben die Mörder etwas Bestimmtes gesucht. Aber ob sie es auch gefunden haben?«
Stella war plötzlich auffallend ruhig geworden.
»Was hast du?«, fragte Leo. »Du siehst auf einmal so seltsam aus.«
»Mir ist gerade etwas eingefallen. Komm mit!«
Sie lief voran zur kleinen Kapelle. Leo folgte ihr.
»Hier hat der padre mir in glühenden Worten von dem Weihnachtswunder erzählt, das Francesco mit dem ganzen Tal zelebriert hat.« Stella ging zum Altar. »Alles war so lebendig, beinahe, als wäre ich damals selbst mit dabei gewesen. « Sie bückte sich, verschwand auf allen vieren unter dem Altartuch. Zerzaust kam sie wieder hoch, ein Kästchen aus dunklem Holz in der Hand, das sie Leo reichte. »Das hat Padre Stefano unter dem Altar versteckt. Er dachte wohl, ich hätte es nicht bemerkt. Doch da hat er sich getäuscht. Ich habe alles ganz genau gesehen.«
Leo öffnete das Kästchen. Darin lag nichts als ein Pergamentstreifen, beschrieben mit Tinte, die schon leicht verblasst war.
»Die gleiche Handschrift!«, rief Leo, als er mit zitternden Fingern seinen Beutel geöffnet, Sebastianos Schatz herausgezerrt und die beiden Stücke hastig verglichen hatte. Er legte die Streifen nebeneinander auf den Altar. »Aber was steht da? Ich bin so aufgeregt, dass ich kaum ein Wort verstehe.«
»Ich weiß, dass du auf dieses Schreiben nicht antworten kannst« , übersetzte Stella. Sie sah Leo an. »Das kenne ich! Genau diese Worte hat Padre Stefano in jener Nacht gestammelt, als er so krank war. Damals wusste ich nichts damit anzufangen, jetzt aber …«
»Und das ist alles?« Leo starrte auf das Geschriebene.
»Nein, es geht noch weiter, warte! Aber ich muss dir diese Zeilen schicken, denn mein Herz brennt vor Liebe, auch wenn ich weiß, dass wir uns niemals wieder so begegnen werden wie in jener Nacht vor den Mauern von San Damiano. Mehr steht hier nicht, denn der untere Teil fehlt, als ob man ihn abgerissen hätte.«
»Es handelt sich also um einen Brief«, murmelte Leo, der tief in Gedanken schien. »Ein Brief, der trotz zweier
Fundstücke noch immer nicht vollständig ist. Ein Brief, der womöglich zwei Männern den Tod gebracht hat – oder vielleicht dreien, wenn man den armen Giorgio dazurechnet. Ein Brief, der etwas mit San Damiano zu tun hat. Ich wusste doch, dass ich hier fündig
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