Braut von Assisi
Jetzt begann die ungestillte Sehnsucht nach Leo ihr regelrechte Streiche zu spielen!
Doch das Geräusch kam näher und näher. Es waren Pferdehufe – daran konnte es keinerlei Zweifel mehr geben!
Stella ließ das nasse Kleid fallen. Ihre Beine setzten sich von selbst in Bewegung, als lenkte sie eine andere Macht. Erst lief sie, dann stürzte sie bergab, so schnell sie nur konnte.
»Leo!«, schrie sie dabei. »Leo! Leo – ich wusste, dass du kommst!«
Neun
A ber es war nicht Leo, der auf Fidelis den steilen Hang heraufpreschte, wie Stella so sehnlich erwartet hatte, sondern ein Fremder auf einem Rappen, trotz drückender Sommerhitze in einen dunklen Umhang gehüllt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Sie musste regelrecht zur Seite springen, sonst hätte er sie gnadenlos umgeritten. Allerdings rutschte sie dabei aus und fiel auf den harten Grund.
Mit einem Schmerzenslaut kam sie wieder auf die Beine. »Seid Ihr verrückt geworden?«, rief sie empört. »Wollt Ihr vielleicht, dass ich mir Euretwegen den Hals breche?«
Der Reiter hatte sein Pferd gezügelt und schien sie stumm zu mustern, wenngleich sie seine Züge nicht richtig erkennen konnte, was sie zutiefst beunruhigte. Etwas Eisiges wehte Stella an, das ihren Zorn in Beklemmung verwandelte. Plötzlich fühlte sie sich wie gelähmt, unfähig, auch nur ein Glied zu rühren.
Schaute sie gerade dem Tod ins Gesicht?
Dann senkte der Fremde den Kopf, wendete erstaunlich behände und ritt ebenso schnell wieder weg, wie er gekommen war.
Sie brauchte einige Momente, um sich aus der Erstarrung zu lösen. Das Kleid war staubig geworden, zum Glück aber heil geblieben, ihre linke Hüfte jedoch schmerzte nach dem Sturz. Stella horchte. Das Geräusch der Hufe war inzwischen leiser, aber noch immer zu hören.
Auf einmal schien es erneut lauter zu werden, beinahe als hätte es sich auf geheimnisvolle Weise verdoppelt. Hatte der wilde Reiter es sich anders überlegt und kam noch einmal zurück? Schon hörte sie Pferdeschnauben ganz in ihrer Nähe. Vorsichtshalber trat sie einen Schritt zurück – und riss die Augen vor Erstaunen weit auf.
»Leo?«, rief sie fragend, weil sie Angst hatte, alles nur zu träumen. »Fidelis! Leo! Leo, du bist es – wie froh ich bin!«
Bevor sie sich fassen konnte, war er bereits abgestiegen.
»Was machst du hier, Stella?« Seine Miene war alles andere als freudig. »Wieso bist du nicht längst wieder in Assisi? Mit den römischen Kaufleuten war doch alles bestens zu deinem Schutz vereinbart!«
Sie schüttelte den Kopf, nicht verneinend, sondern wie jemand, der versucht, Klarheit in seine Gedanken zu bringen.
»Hast du nicht den seltsamen Reiter auf dem Rappen gesehen?«, fragte sie. »Gerade eben? Du musst ihm doch begegnet sein!«
»Den schwarzen Reiter? Natürlich …«
»Wie der Tod!«, fiel sie ihm ins Wort. »Der Schreck ist mir bis ins Mark gefahren. Um ein Haar hätte er mich einfach umgeritten, weißt du das? Ich zittere jetzt noch, wenn ich daran denke.«
»Du solltest nicht hier sein, Stella!«, wiederholte Leo unbeirrt. »Ich hatte gute Gründe, dich nach Hause zu schicken. Aber …«
»… Antonella hat dir gesagt, dass ich in Greccio bin – und da musstest du einfach kommen, nicht wahr? So war es doch!«
»Antonella?« Jetzt klang er verwirrt.
»Antonella, unsere Wirtin!«, erklärte Stella ungeduldig.
»Ich wusste, dass du sie nach mir fragen würdest. Nur deshalb hab ich ihr verraten, wohin ich wollte.«
»Ich komme nicht aus Rieti.« Es klang abschließend. Offenbar hatte Leo nicht vor zu verraten, wo er all diese endlosen Tage und Nächte verbracht hatte. »Ich bin direkt hierhergeritten, um meine Befragungen weiterzuführen. Die Blutkarte lässt mir keine andere Wahl. Ich muss erfahren, welche Bewandtnis es damit hat.«
Wieso schaute er sie so finster dabei an? Bevor er sich wie ein Dieb weggeschlichen hatte, waren sie ein Liebespaar gewesen. Stella bekam plötzlich Lust, es ihm so laut ins Gesicht zu schreien, dass es auch Padre Stefano in seinem Kloster hören würde. Aber dann entdeckte sie noch etwas anderes in seinen Zügen, und das hinderte sie daran: Schmerz, Sehnsucht, Verlassenheit.
Leo litt, das konnte sie sehen. Um ihretwillen? Weil sie die Liebe, die sie füreinander empfanden, nicht leben durften?
Stellas Herz begann zu hämmern, als wollte es ihr den Brustkorb sprengen. Noch nie im Leben hatte sie einen Menschen so innig geliebt wie diesen hochgewachsenen Mann in seiner staubigen
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