Braut von Assisi
sah sie ihn an, ein forschender, intensiver
Blick, an den er sich erst gewöhnen musste. »Wenn man bereits zu zweifeln begonnen hat, ob der Weg, den man eingeschlagen hat, auch der richtige ist?«
»Dann sollte man innehalten, sich besinnen und vor allem versuchen, Klarheit zu erlangen, ehe man voreilig ein heiliges Versprechen ablegt, das man bereuen könnte.«
Sie lachte brüchig. »Und wenn es dafür schon zu spät ist?«, fragte sie. »Und es kein Zurück mehr gibt?«
»Es gibt immer ein Zurück«, sagte Leo eindringlich.
»Aus Eurem Mund klingt das so einfach, padre «, sagte sie und ging weiter, den Blick fest auf den Boden geheftet. »Aber das ist es leider ganz und gar nicht.«
»Das habe ich auch nicht behauptet«, erwiderte Leo. Sein Tonfall war ruhig, und doch lag eine gewisse Schärfe darin. »Aber manchmal ist unsere Angst vor solch einem Schritt sogar schlimmer als dann später der Schritt selbst. Falls Ihr also jemanden zum Reden brauchen solltet, so könnte ich …«
»Nein«, sagte Stella eine Spur zu schnell. »Nicht darüber. Und schon gar nicht heute.«
Der Anstieg zum Monte Subasio hatte längst begonnen. Der Weg, der sich durch dichtes Grün bergauf schlängelte, war schmal und in manchen Passagen unerwartet steil. Starke Regengüsse des vergangenen Winters hatten offensichtlich zusätzliches Erdreich weggespült. Manchmal verengte er sich geradezu zu einem steinigen Ziegenpfad, auf dem man nur beschwerlich vorankam. Auf einmal stolperte Stella über einen Felsbrocken und fiel mit einem unterdrückten Schmerzensschrei auf die Knie, doch als Leo ihr aufhelfen wollte, ließ sie seine Hand unberührt und kam allein wieder auf die Beine.
Schweigend gingen sie weiter, inzwischen beide leicht keuchend, weil der Weg sich unbarmherzig weiter und
weiter nach oben schraubte. Je höher sie gelangten, desto dichter wurde der Wald. Leo erschien er wie eine eigene Welt, die ihn verzauberte, ein grünes, bis auf ein paar vereinzelte Tierlaute stilles Refugium, das ihn das geschäftige Treiben in den staubigen Gassen Assisis, das schon bald einsetzen würde, vergessen ließ.
Mit jedem Schritt fühlte er sich Franziskus näher. In diesen Wäldern hatte der Heilige gelebt und gebetet; hierher hatte er sich mit seinen ersten Brüdern zurückgezogen, um der Welt zu entfliehen und Gott dafür umso intensiver zu erfahren. Wie viel Schönheit ihn dabei umgeben hatte!
Die Sonne, deren Licht schräg durch die hohen Wipfel fiel, verwebte Gold mit leuchtendem Grün, die Luft roch würzig, und als sie so durstig geworden waren, dass die Zunge ihnen am Gaumen zu kleben schien, erfrischte ein kleiner Bach sie mit seinem klaren Wasser.
»Wir werden bald am Ziel sein«, sagte Stella plötzlich. »Hier – diese verwitterte Eiche, in die der Blitz gefahren ist. Jetzt erinnere mich wieder ganz genau. Noch zwei, höchstens drei Biegungen. Dann muss die Einsiedelei auftauchen. «
»Ihr wart schon einmal hier oben, Signorina Stella?«, fragte Leo erstaunt.
Sie nickte. »Zusammen mit meiner Amme. Aber das liegt Jahre zurück. Damals war ich noch ein Kind.« Ihr Tonfall hatte etwas Abschließendes, und sie ging rasch weiter, bevor er noch mehr fragen konnte.
Dann, plötzlich, lichtete sich der Wald.
Offensichtlich hatte man schon vor langer Zeit etliche Bäume gefällt, um auf einem kleinen Plateau genügend Platz für ein steinernes Kirchlein und einige schäbige Reisighütten zu erhalten, die sich an die Kante des Abgrunds
zu schmiegen schienen. Die gräulichen Felsen dahinter reichten hinunter bis in eine tiefe Schlucht. Von dort hörte man das Geräusch rasch fließenden Wassers.
»Das also ist die Einsiedelei?«, fragte Leo verblüfft.
Da der Heilige mit seinen Gefährten so viel Zeit hier verbracht hatte, hatte er sich unwillkürlich etwas Größeres, Erhabeneres vorgestellt. Dann jedoch korrigierte er sich selbst. Das Einfachste vom Einfachen, dachte er beschämt. So und nicht anders wollte er doch leben! Vergiss nicht, dass Franziskus sogar im Winter barfuß gegangen ist. Und selbst zum Sterben hat er sich nackt auf den Boden legen lassen, um Gottes Erde nah zu sein.
»Ja«, sagte Stella mit leuchtenden Augen. »Eremo delle Carceri. So nennen es die Leute hier. Und ist es nicht wirklich ein Stück vom Paradies?«
Sie hatte recht mit diesem Vergleich – das erkannte Leo, als er sich nach allen Seiten umsah. War der Aufstieg schon vielversprechend gewesen, so erblickte er nun ein Stück Natur, das ihm
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