Braut von Assisi
Benedetta das Wort.
»Ein neuerlicher Schwächeanfall in der letzten Nacht – wir mussten ihr verschiedene Mittel verabreichen«, übersetzte Regula sichtlich unwillig. »Nun schläft sie, endlich! Niemand darf ihre Ruhe stören.«
Leo starrte die beiden finster an. Begann etwa alles wieder von vorn? Er war dieser ständigen Hindernisse und Hemmnisse so überdrüssig!
»Ihr bringt mich jetzt zu ihr!«, sagte er und registrierte, dass seine Stimme drohend klang. »Sofort!«
Die Nonnen wechselten ein paar geflüsterte Worte, die er nicht verstand, dann wandte Benedetta sich ihm erneut zu, während Regula mit sorgenvoller Miene übersetzte.
»Meine Mitschwester ist unendlich traurig darüber, wie wenig du uns vertraust«, sagte sie. »Haben wir dir Anlass gegeben, derart an uns zu zweifeln? Das würden wir unendlich bedauern.«
Das habt ihr allerdings, dachte Leo und schaute zu dem Grab. Und mehr als einen! Unwillkürlich kam ihm erneut Abt Matteo in den Sinn – und das wenig Schmeichelhafte, was er über Madre Chiara gesagt hatte.
»Madre Chiara und ihr habt nicht nur Freunde in Assisi«,
sagte er, jedes seiner Worte sorgfältig abwägend. »Auch nicht bei jenen, die eigentlich eure Fürsprecher sein sollten …«
»Ihr habt mit dem Abt von Sacro Convento gesprochen? «, erfolgte prompt die Übersetzung, kaum hatte Suor Benedetta geantwortet. »Dann freilich wundern wir uns nicht länger.«
»Was könnte er schon gegen euch fromme Schwestern einzuwenden haben?«
Es blieb eine ganze Weile still, während die beiden Nonnen beredte Blicke tauschten.
»Sie hassen uns Frauen«, übersetzte Regula schließlich mit gesenktem Haupt. »Die Lehre Francescos soll rein bleiben – und damit männlich. Wir Schwestern sind allenfalls geduldet, wenn überhaupt.«
Aus Benedettas Mund ergoss sich ein leidenschaftlicher Wortschwall. Schließlich fuhr sie sich mit der Hand über die Lippen, als wolle sie sie für immer versiegeln.
»Was genau hat sie gesagt?«, wollte Leo wissen.
»Dass Francesco Madre Chiara von ganzem Herzen geliebt hat – geliebt wie eine jüngere Schwester.«
»Das war alles? Für mich hat es sich nach sehr viel mehr angehört«, sagte Leo erstaunt. »Kann ich die Äbtissin nun endlich sehen?«
Es gab keinen Widerspruch mehr. Die beiden Nonnen führten ihn den bereits bekannten Weg entlang. Dann öffnete sich die Tür zur winzigen Kammer.
Leo erschrak, als er Chiara erblickte.
Die Tage seit seinem letzten Besuch schienen den Rest Fleisch von Gesicht und Körper gefressen zu haben. Da waren Knochen, wohin sein Blick auch glitt, dazu hörte er den rasselnden Atem, den er sonst nur von Todkranken kannte.
»Sie stirbt!«, rief er entsetzt. Kammer und Lager erschienen ihm auf einmal noch erbärmlicher als beim ersten Mal. Nicht einmal die Graue ließ sich blicken, die damals ein wenig Wärme und Trost gespendet hatte. »Habt ihr nicht gesagt, ihr hättet ihr wirksame Mittel gegen ihr Leiden verabreicht?«
»Sie ist stärker, als du glaubst«, sagte Suor Regula beschwichtigend. »Und kritische Phasen wie diese hat unsere geliebte Mutter schon öfters durchlaufen. Gott wacht über sie, Bruder Leo. In seiner Hand sind wir alle.«
Wenig überzeugt starrte er in das leblose Gesicht. Wer bist du, Madre Chiara?, dachte er. Was treibt dich an? Und wohin wird dein Weg dich führen?
Sie schlug die Augen auf. Sahen sie ihn überhaupt noch, oder blickten sie bereits durch ihn hindurch in andere Welten?
Der welke Mund begann zu flüstern.
»Christin, so hat der poverello mich genannt«, übersetzte Suor Regula. »Und niemand war ihm je so nah wie ich. Uns beide verbindet diese eine, diese unendliche Liebe – zur Herrin Armut, die über allem steht. Doch unsere Herrin Armut ist eine überaus gestrenge Königin, und sie duldet niemand anderen neben sich …« Sie musste sich noch tiefer über die Liegende beugen, um sie überhaupt verstehen zu können. »… das ist mein Testament, das ich euch geliebten Schwestern hinterlassen werde …«
Der Kopf fiel wie leblos zur Seite. Die dünnen Lider schlossen sich. Hob und senkte sich die eingefallene Brust überhaupt noch?
»Was ist mit ihr?«, rief Leo. »Sie ist doch nicht etwa …«
»Nein, nein!«, beruhigte ihn die Infirmarin. »Madre Chiara ist lediglich eingeschlafen, und vielleicht hilft ihr das, langsam wieder zu Kräften zu kommen. Du musst
ihr diese Ruhe gönnen, nach der ihr Körper und ihr Geist so dringend verlangen. Alles andere ist jetzt
Weitere Kostenlose Bücher