Brautflug
komm hinterher nicht an und beschwer dich. Diese Ungerechtigkeit. Sie trommelte wütend mit den Fingern auf die Tischplatte und schlug einen Kekskrümel vom Tisch. »Warum hast du es nicht wegmachen lassen, als es noch ging? Du hast doch bestimmt so deine Adressen.« Sie spürte, dass sie zu weit ging, ihr schoss das Blut in die Wangen. Aber sie konnte nicht mehr zurück und hielt dem Blick stand.
»Hier wird niemand weggemacht«, sagte Esther schließlich beherrscht.
Marjorie dachte an das Familienfoto, den Vater, die Mutter und den kleinen Bruder. Sie hatte so ihre Vermutungen, aber solch eine Frage stellte man nicht, und Esther erzählte nie etwas. »Tut mir leid«, sagte sie vorsichtshalber. Nun entschuldigte
sie
sich auch noch. Doch sie sagte es sogar noch einmal, »tut mir leid«. Esther nickte.
»Drei Monate lang konnte ich es verbergen, dann bekam Peggy es spitz, und ich wurde freundlich gebeten, das Zimmer zu räumen … ihr war es sehr unangenehm, sie bat um Verständnis … eine unverheiratete Mutter würde ihrem Ruf schaden.« Ein heiseres, zynisches Lachen. Ja, lach du nur, dachte Marjorie, das ist dein zukünftiges Schicksal, überall Finger, die auf dich zeigen, nirgends willkommen sein.
Aber dennoch hatte sie ein Kind.
Mit einer brüsken Bewegung stützte Marjorie die Ellbogen auf den Tisch und legte den Kopf in die Hände. Sie starrte auf die Sandteigkrümel auf der Tischplatte und versuchte, nicht zu schreien. In der Ferne erzählte Esther weiter. Sobald Rose, die alte Schneidermeisterin, die nie irgendetwas merkte, in ihr Altenheim umgezogen war, war sie in das Geschäft eingezogen und hatte ein Schild mit »Vorübergehend geschlossen« an die Tür gehängt. Ihre Kunden sollten lieber nichts von ihrem derzeitigen Zustand wissen. Sie lebte von ihrem Ersparten, so sparsam wie möglich, man könnte es ärmlich nennen. »Aber«, sagte sie, »darum geht es nicht. Damit kann ich leben.« Keine Ahnung, worum es dann wohl ging. Zieh mich da nicht mit hinein. Sie schwiegen. Dann erklang eine Stimme, so heiser, dass sie kaum zu hören war.
»Ich will kein jüdisches Kind in die Welt setzen.«
In der darauf folgenden Stille hob Marjorie den Kopf und dachte: Sie will das Kind wirklich nicht. Eine unerhörte Möglichkeit tauchte vor ihrem inneren Auge auf, so unerhört, dass sie den Gedanken nicht bis zu Ende denken konnte.
»Warum nicht?«
Esther wies die Frage zurück, eine harte, deutliche Geste, eine Entscheidung, bei der keine Berufung möglich war. Sie wurde ja nie ins Vertrauen gezogen. Doch schräg durch diese Tatsache hindurch wuchs das Bewusstsein, dass es wahr war, dass Esther das Kind tatsächlich nicht wollte. Und dass es doch geboren werden würde. Und dass es irgendwo bleiben müsste.
»Willst du es zur Adoption freigeben?«
»Bei einer Adoption«, sagte Esther nach einiger Zeit, »wird man zurückverfolgen können, dass das Kind von mir ist.«
Marjorie sah die Lösung. »Was willst du denn dann?«, flüsterte sie. Währenddessen steckte sie Millimeter für Millimeter den geheimen Schlüssel in das Schloss ihrer Ketten und drehte ungeheuer vorsichtig um, sodass sie kein Geräusch machten. Sie war nicht zum ersten Mal auf spektakuläre Weise entkommen.
Zu dem Zeitpunkt, als Hans nach Hause kam, hatte sie den ganzen Plan ausgetüftelt, und er traf seine Frau mit einem Glanz in den Augen an, den er lange nicht mehr gesehen hatte, tadellos gekleidet hinter einem dampfenden Endivieneintopf, mit dem sie ihn überraschte. Bei seinem zweiten Glas Bier erklärte sie haarklein Esthers Anfrage. »Bloody hell«, sagte er noch einmal, und dieses Mal glänzten seine Augen genau wie ihre. Das gefiel ihr nicht. Seinen Widerspruch und all die möglichen Bedenken hatte sie bereits in Gedanken durchgespielt, nicht aber die Gier, den Eifer, mit dem er ihren Plan nun annahm. Als hätte er sich von der Option – wie gering die Chance auch sein mochte –, ein eigenes Kind zu bekommen, einfach verabschiedet. Als hätte er sich mit dem Misserfolg abgefunden, der natürlich
ihr
Misserfolg war und nicht seiner. Das ging ihr zu schnell. Praktisch gleich null heißt noch lange nicht gleich null, betonte sie. »Das stimmt«, erwiderte er mit vollem Mund, »aber eben doch praktisch gleich null.« Sie warf ihr Besteck auf den Teller. »Soll ich mir dann vielleicht gleich einen Strick nehmen?!« Erschrocken sah er sie an, so hatte er es doch nicht gemeint, er fing an zu stottern. Dieses Kind könnte ihr
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