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Brautflug

Brautflug

Titel: Brautflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marieke Pol
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Ältestes sein, dann war die Vorstellung doch umso schöner, dass danach noch mehr geboren werden würden?
    »Ja schon«, sagte sie, »aber wenn nun mal nicht mehr geboren werden?«
    »Dann haben wir auf jeden Fall ein Kind.« Das waren genau die Gedanken, die sie den ganzen Mittag über selbst durchgespielt hatte. Doch jetzt, von ihm laut ausgesprochen, trafen sie sie wie ein nasser Lappen im Gesicht. »Ja, sonst bist du mit einer unfruchtbaren Frau verheiratet. Dann bleibst du kinderlos! Das wird dir noch leidtun! Dann wirst du mich hassen!«
    Er schob seinen Stuhl zurück und warf seine Serviette auf den Tisch.
    »In Ordnung«, sagte er, »wir tun es nicht.«
     
    Wütend klappten sie das Bett aus, eine Routinehandlung, die inzwischen vollkommen automatisiert war. Danach zog sie ihre Sachen aus, während er ihr den Rücken zuwandte und zwischen den schweren Möbeln seine letzten Dinge für den Umzug packte. Warum sollte er noch das geringste Interesse an ihrem Körper haben? Gleichgültig kroch sie unter die Decke und rollte sich zur Wand. Dort lag sie dann voller Anspannung und lauschte auf sein Geraschel und das Reißen von großen Bögen Papier, in der Hoffnung, dass sie wider Erwarten zur Ruhe kommen und in einen langen, langen Schlaf fallen würde.
    Nach einer Weile wurde es jedoch still im Zimmer, und die Stille hielt lange an. Ihr ganzes Nervensystem war in Alarmbereitschaft. Sie drehte sich mit einem Ruck um. Er saß über die Zeichnungen ihres Traumhauses gebeugt und weinte auf eine Weise, die so beherrscht und still war, dass sie zu Tode erschrak. Nachts heimlich weinen, fast lautlos, nur ein Zucken.
    Sein Kummer. An ihn hatte sie überhaupt nicht gedacht.
    Sie schoss aus dem Bett heraus, eilte zu ihm, glitt auf seinen Schoß und legte die Arme um ihn. »Nicht weinen«, flehte sie und wiederholte dann immer leiser, »nicht weinen, nicht weinen«, während sie selbst immer mehr weinte und schon bald nicht mehr deutlich war, wer hier eigentlich wen tröstete. Vielleicht trösteten sie sich gegenseitig. Sie rieben ihre nassen Wangen aneinander und schluchzten und leckten das Salz auf, das einfach weiterströmte. Immer wieder vermischten sich neue Tränen mit den alten, und sie leckten und wischten sie weg und schluchzten. Als die Tränen dann langsam versiegten, saßen sie wie ineinander verschmolzen da, und keiner der beiden war in der Lage, sich vom anderen loszumachen. Dort, auf dem klobigen Esstischstuhl, der mit hartem Plüsch überzogen war, der ihre Haut rot und rau scheuerte, öffnete Marjorie die Knöpfe seiner Hose und wiegte ihren Körper über ihrem Mann. Den Rest des Abends waren sie dann auf vorbildliche Art verheiratet – nach vier Monaten zum ersten Mal –, und dann sogleich auf alle erdenklichen Weisen, die Stück für Stück immer erwachsener wurden, erschreckend echt, konnte man fast sagen. Und ohne irgendwelche Worte wussten sie, dass das Kind an diesem Abend gezeugt wurde. Ob es ihr eigenes Kind war oder nicht, es wurde an diesem Abend gezeugt.

14
    Erst die Hand von Esther, mit Fingern, die so geschmeidig waren, dass der Daumen ganz nach außen gebogen werden konnte, bis der Nagel den Unterarm berührte. Die Hand schob sich – mit der Handfläche nach oben – in einer langsamen, bedeutungsvollen Bewegung über den Tisch. In der Mitte des Tisches bogen sich die Finger weiter auf und streckten sich. Die Nägel berührten das Eichenholz, sodass zwei, drei leise Schläge zu hören waren. Die Hand, eine kühle, bekümmerte Hand, blieb in ruhiger Erwartung liegen, schmucklos, ohne Ringe und Armreifen. Es war totenstill. Hier wurde über das Schicksal eines Menschen bestimmt. Die Wände des Souterrains sahen zu und waren ihre Zeugen.
    Die Hand von Marjorie war kürzer und weniger geschmeidig. Eine feste, sportliche Hand mit geraden Nägeln und einem glatten Ehering. Eine Hand, die nicht zu Träumen, sondern zu Taten aufrief und sich jetzt entschlossen, mit einem energischen Klatsch, schräg über die geöffnete Hand von Esther legte, und dabei nicht das geringste Zögern zeigte (obwohl sie dieses sehr wohl verspürte). Die Hände tauschten Wärme aus und warteten. Fast schützend legte die Hand von Hans sich darüber. Seine Hand, eine große Männerhand mit Schwielen von zwei Jahren Zimmern und Hobeln, passte zu der von Marjorie wie eine Jacke. Ihre Eheringe stießen einen kurzen Moment aneinander, doch das war Zufall und hatte keine weitere Bedeutung. Jetzt trug die untere Hand die

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