Brautflug
der stürmischen Wind und Platzregen bringen würde, keine besondere Beachtung. Ein Himmel wie dieser war für sie die tägliche Kulisse, und falls dieser nun wirklich Vorbote für Unheil war, dann müsste sich in ihrem Leben der letzten zehn Jahre so viel Elend abgespielt haben, dass ein normaler Mensch es nicht überlebt hätte. Es regnete nun einmal oft an der Westküste. Nein, dies schien vielleicht gerade wegen des bedrohlichen Wolkenhimmels ein ganz normaler Morgen zu sein – der Anfang eines Tages voller Routine: zuerst die Kinder mit dem Rad zur Schule bringen, danach zum Postamt, um die Radtaschen zu füllen, ein paar Stunden lang Post austragen und dafür sorgen, dass alles trocken blieb, danach Einkäufe machen, zu Hause schnell aufräumen, ihre Schublade kurz öffnen und an dem Brief feilen, den sie bald wegschicken würde. Sie würde Franks Foto mit dem Cowboyhut vor den Kisten zum hundertsten Mal ansehen oder seine Briefe erneut lesen, neue Bedeutungen von Worten finden, die bereits diverse Bedeutungen gehabt hatten, seine Briefe gut verstecken, Schublade schließen, Radfahren, Kinder von der Schule abholen, zurückfahren, zu Hause Tee aufsetzen, Programm für die Kinder ausdenken, falls schlechtes Wetter ist (fast immer), Abendessen vorbereiten, Derk empfangen und herausfinden, wie seine Laune ist, ihm ein Bier einschenken, Kinder ruhig halten, wenn die Laune mäßig ist (fast immer), versuchen, die Stimmung beim Abendessen aufrechtzuerhalten, beten, aufräumen, abwaschen, den Kindern vorlesen, Lieder singen, Kinder ins Bett bringen, für Derk Tee aufsetzen, nett zu ihm sein. All das versuchte sie leidenschaftlich zu beschreiben, als würde es um ein außergewöhnliches Leben gehen. Wenn die Kinder schlafen, geht es weiter: Bibliotheksbuch lesen, zusammengerollt auf dem braunen Sessel am Ofen. Auch wenn die Wärme sie schläfrig macht, noch etwas in Lesehaltung sitzen bleiben, dabei gedanklich jedoch schon wieder entfliehen und phantasieren über Worte aus seinen Briefen. Auf einigen Worten vorsichtig kauen, den Geschmack testen oder mit der Zunge daran entlanggleiten. Worte zwischen den Lippen balancieren und dann tonlos aussprechen (gefährlich nah neben Derk, der vollkommen ahnungslos am Tisch sitzt und einen Brief an die Gemeinde schreibt – dass er ja wohl nicht verrückt geworden sei, was sie sich überhaupt einbildeten), spezielle Worte, die allein Frank benutzt, wie »weicher Frauenschoß« oder »volle, runde Schenkel«. Von den Dingen träumen, die er in seinen Briefen beschreibt, als ob sie Wirklichkeit wären, und spüren, was so eine Liebe in Körper und Seele hervorrufen kann. Träumend im Bett liegen, wenn möglich viel früher als Derk oder gerade spät – leg du dich schon mal hin, ich bin noch nicht müde –, damit sie seinen Berührungen entgeht, weil sie sie nicht ertragen kann. Genau wie die untertänige Geste, mit der er unter der Decke ihre Hand in Richtung seiner Schamgegend zieht, als Zeichen dafür, dass Geschlechtsverkehr auf dem Abendmenü steht, nach dem Blumenkohl. Eine Geste, der man sich gerade dieser Demut wegen nicht verweigern kann. Am besten, man kann das alles vermeiden. Ein unangenehmes Gefühl, sich davor zu drücken, schließlich hat er auch sein Recht auf irgendetwas, er tut für uns sein Bestes, er liebt mich, ich bin schuld an seiner Laune. Und doch ist es besser, sich davor zu drücken und
vor
oder
nach
ihm schlafen zu gehen. Neben ihm liegen mit geschlossenen Augen und dabei Ehebruch begehen. Wenn man das überhaupt als Ehebruch bezeichnen kann.
Solch ein Tag schien es zu werden, ein normaler Tag. Daran änderten auch die ersten Windstöße und die frostigen Regentropfen nichts. Ada strich sich die Haare aus dem Gesicht, schob sie vergeblich hinter die Ohren und tastete kurz, ob der Umschlag mit ihrem letzten Brief noch in ihrer Jackentasche steckte. Obwohl sie es mit hundertprozentiger Sicherheit wusste, musste sie es dennoch wieder und wieder kontrollieren, weil schon die Geste an sich ihr Freude bereitete, einen Ausweg bot. Dann schossen drei Kinder an ihr vorbei aus der Tür hinaus den Hügel hinunter. Sie sah die nackten, dünnen Beine ihrer Tochter wegtanzen. »Wer als Erster unten ist!« Mädchen können so gemein sein, es gab nämlich eigentlich die klare Abmachung, dass diese täglichen Wettkämpfe nicht erlaubt waren, weil der Kleinste niemals gewinnen konnte. Dieser rief dann auch sogleich, dass es nicht fair sei. »Das sollen wir
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