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Brautflug

Brautflug

Titel: Brautflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marieke Pol
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dir zu.
    »Jeden Tag«, sagte sie heiser, »und ich meine wirklich jeden Tag, können wir uns entschließen, unsere Jacke von gestern nicht mehr zu tragen. Eigentlich wollen wir sie schon lange nicht mehr tragen, doch es ist eine so vertraute Jacke und wir haben uns an sie gewöhnt. Sie hängt immer bereit, und wir nehmen sie gedankenverloren vom Haken. Die Jacke ist verwaschen und verschlissen, sie wirkt regelrecht in sich gekehrt. Auf der Straße scheint es, als wären wir unsichtbar, nichts regt sich in den Augen der Leute, die unseren Weg kreuzen. Die Jacke ist aus der Mode und lastet schwer auf unseren Schultern. Wenn wir zufällig unser Spiegelbild in einem Schaufenster entdecken, erschrecken wir vor der eingefallenen Silhouette, die dort vorüberläuft. Regen und Böen haben die Jacke verschlissen und kaputt gemacht. Sie riecht nicht mehr besonders frisch. Abends hängen wir sie mit leichter Abneigung zurück in die Garderobe. Vielleicht, denken wir zum wiederholten Mal, ziehe ich sie morgen nicht mehr an.
    Ich fordere Sie heraus, liebe Gäste.
    Jeden Tag können wir uns entschließen, eine neue Jacke anzuziehen. Grazil und schlank geschnitten, in hellen, kräftigen Farben, schön wie eine Blume. Wenn wir dann in den Spiegel sehen, sind wir angenehm überrascht. Gestärkt treten wir vor die Tür. Auf der Straße sehen wir, wie die Augen der Passanten aufleuchten, wenn wir vorübergehen. Ein Saum, der sich eigenwillig hochschiebt, vielleicht bis übers Knie! Oder ein Gürtel, der sich überraschend nach hinten legt und hinter unserem Rücken eine Schleife bildet, wie ein Augenzwinkern, das man nicht erwartet hätte, ist es nicht so? Man dreht sich um, was ist das für eine Jacke? Was ist das für ein Mädchen? Was für eine Frau? Und wir laufen mit federnden Schritten weiter, denn etwas ist passiert, es hat ein winzig kleines Erdbeben gegeben. Man hat uns erblickt, wir existieren, wir sind neu geboren.
    Jeden Tag. Ein heiteres, wiegendes Kleid, eine Jacke mit geraden Schultern, eine Hose, die unsere Beine länger erscheinen lässt, sodass wir größere Schritte machen können. Aus einem Stoff, in dem wir uns freier bewegen können, schwingend und leicht, ohne jeglichen Ballast. In einer Farbe, die die Blicke der Menschen anzieht ebenso wie die Bienen. Lasst uns wie Klatschmohn auf dem Stoppelfeld sein. Wir können es selbst bestimmen. Jeden Tag. An allen Tagen unseres Lebens. Wie viele Tage es sein werden, wissen wir nicht, daher sollten wir keinen vergeuden.
    Mein Name ist Esther. Ich will Farbe in Ihr Leben bringen. Das kann man auf verschiedene Arten tun, und dies hier ist meine. Heute wird mein Traum Wirklichkeit. Neuseeland hat mir den Raum für einen frischen, neuen Start geschenkt. Im Gegenzug biete ich Neuseeland mein Talent an.«
    Sie machte eine kurze Verbeugung. Ihre Worte hatten ihr selbst wahrhaft in den Ohren geklungen, und sie wollte nicht daran zweifeln. Schnell gab sie Rits das Zeichen, dass er ans Mikrophon kommen sollte, um seine Glanzrolle als Conferencier einzunehmen. Und während die Jazzcombo einen Tusch spielte, verschwand Esther hinter dem bemalten Laken und hob es etwas zur Seite, um das erste Mannequin durchzulassen.
    »… in seegrünem Jersey, auf der Vorderseite mit Duchesse abgesäumte Falten. Galant betont es die Körperlinie. Ein V-förmiger Ausschnitt, vollendet mit einer riesengroßen Halskette …«
     
    »… aus kirschroter Shetlandwolle, gerade geschnitten, mit Sattlerstich handgesäumt …«
    Als die Schau längst vorbei war und Esther die Gesichtsmuskeln von dem Erfolgslächeln allmählich schmerzten, als die Arme schlapp waren von all dem Händeschütteln, die Wangen rau von den Gratulationsküssen und die Ohren anfingen zu sausen von den Ausrufen,
superb, marvellous, daring, so utterly talented.
Als ihr die Kehle trocken wurde von den fast geschrienen Ausführungen über die Musik und das Gesumm der aufgeregten Besucher und die Ausrufe der Mannequins hinweg, die die Schau mit ihren Familienmitgliedern besprachen – habt ihr dies gesehen, das gemerkt, wie fandest du mich? –, als sie Atemnot bekam von der stickigen Luft in dem überfüllten Raum und ihr allmählich schwindelte von all den fremden Gesichtern, den Bekanntschaften, den Versprechen, den Verabredungen, den Lobgesängen, den Witzen, den schlagfertigen Antworten – erst da sah sie durchs Schaufenster, an der Stelle, wo die Gardine zur Seite geschoben war, um etwas Tageslicht hereinzulassen, Frank

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