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Brautflug

Brautflug

Titel: Brautflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marieke Pol
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Community.« Was für eine Geduld. Er hatte ihr alles bereits erzählt. Es ging um die jüdische Gemeinde in Christchurch, nicht groß, an die hundert Menschen. Sie hatten die Flüchtlinge aufgefangen, und nun fingen sie die Einwanderer auf. Sie halfen einem, aber man musste sich selbst anmelden. Es gab auch eine Synagoge mit einem Glasmalereifenster. Aber sie war mit ihren Gedanken irgendwo anders, nimm es mir nicht übel.
    »Esther …« Niedergeschmettert blieb er mitten auf dem Platz stehen.
    »Was sagtest du, wo du jetzt hingehst?«, fragte sie Frank unschuldig. Auch das wusste sie bereits. Sie hatte nichts Böses im Sinn, doch sie wollte Zeit gewinnen, denn zu ihrem soeben errungenen Glück, das etwas mit Freiheit zu tun hatte, gehörte das Abwägen der verschiedenen Möglichkeiten. Frank musste zum Hafen von Lyttelton, das war eine Zugfahrt von einer halben Stunde, dort würde er die Nacht im
Emigration Camp
verbringen, bevor das Schiff ihn morgen Nacht nach Wellington auf der Nordinsel brachte, von wo aus der Zug nach Masterton fuhr, wo er auf einem Bauernhof erwartet wurde. Er hob den Arm, um ein Taxi anzuhalten. Er hatte keine Lust auf dieses Camp.
    »Ich bleibe heute Nacht hier, ich suche mir ein Hotel«, sagte er. »Und du?«
    Leons Hand tippte leicht auf ihren Rücken. Der Challe lag warm und duftend unter einer weißen Serviette, einer Familienserviette.
    »Esther …«
    Allerliebst drehte sie sich zu ihm um.
    »Ich gehe ins Hotel, tut mir leid. Ich bin zu müde. Ich muss schlafen. Das wirst du doch wohl verstehen.«
    Er gab sich die größte Mühe. Sie spürte Ärger in sich aufsteigen, sie hatte nicht darum gebeten, auch nicht um Challe. »Hundemüde.«
    Ich bitte dich, morgen ist auch noch ein Tag. Sie hatte verdammt nochmal fünfzig Stunden eingeklemmt im Flugzeug gesessen, war von einem Kontinent zum anderen getaumelt, und trotz ihres feierlichen Versprechens hatte sie Schnaps trinken müssen, weil sie keine andere Lösung mehr sah, daher hatte sie nun Kopfschmerzen und ein flaues Gefühl im Magen, schau mir doch mal richtig in die Augen. Es war jetzt also wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, das würde er ja wohl verstehen, um bei den Jottkowitzes zu sitzen und jüdische Bekanntschaft zu machen. Außerdem würde sie sich heute nirgendwo mehr anmelden.
    Konnte er das verstehen? Er verstand es.
    Mit unerwarteter Energie küsste sie ihn auf die Stirn, quetschte sich auf den Rücksitz des Morris und winkte Leon, der auf dem Platz zurückblieb, allein, weil in der Zwischenzeit alle Bräute aufgebrochen waren, in ihr neues Leben.
     
    Hätte sie den Rest des Tages nicht geschlafen, hätte sie sehen können, wie Christchurch zum Leben erwachte, zum sonntäglichen Leben. Familien gingen schläfrig in die Kirche und kehrten erbaut wieder nach Hause zurück. Die Düfte von
Sunday Roast
stiegen durch geöffnete Küchenfenster nach draußen und verflogen im Oktoberwind. Autos fuhren für einen kleinen Ausflug aus der Stadt hinaus, alte Modelle, weil es hier keine eigene Autoindustrie gab und alles importiert werden musste. Und alles auf der linken Seite der Straße, als wäre das das Normalste von der Welt. Busse, die nach dem Wochenendfahrplan fuhren. Elektrische Straßenbahnen. Fahrräder, auch hier, auf der anderen Seite der Welt. Christchurch war eine der wenigen ebenen Gegenden in Neuseeland und wurde auch die
City of Bicycles
genannt. Männer und Frauen, tüchtig strampelnd, auf dem Weg zu ihrer alten Mutter oder in den Kricketclub. Wäre Esther wach gewesen, so hätte sie Hüte sehen können und dunkle Pepitaröcke, unzählige Jacken in gedeckten Farben und verhüllenden Formen. Aber sie sah von all dem nichts, denn sie lag in einem schmalen Hotelbett und schlief, und in ihrem Traum lief sie um ein Haus herum, ein großes Haus mit vielen Fenstern. In einem der Zimmer saßen sie um ein Klavier und sangen fröhliche Lieder, ihre Eltern und der kleine Sal, und als sie weiterging, saßen sie in der Küche bei Challe, sie saßen in allen Zimmern, und auch wenn sie freundlich lachten, so zeigten sie ihr nicht, wo der Eingang war. Mit harten, eckigen Bewegungen schreckte sie hoch, und ein paar Sekunden lang wusste sie nicht, wo sie war, bis sie im Halbdunkel an den gestreiften Gardinen das sichere Hotelzimmer erkannte. Es schüttelte sie, und sie begann wie ein kleines Kind zu schluchzen. Woher all die Tränen kamen, verstand sie selbst nicht, denn sie konnte sich nicht an ihren Traum erinnern. Nur, dass

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