Brautflug
Flugzeug taten. Ich hätte meine Hand niemals losreißen dürfen. Ein altes Gefühl der Reue kam in ihr auf, ein ewiger Begleiter. Doch zum ersten Mal misstraute sie der Reue, weil sie jetzt mit einer trüben Schicht vermischt war, die sie nicht so recht einordnen konnte. Der Reichtum des Weinguts hatte sie angefressen. Wenn ich nicht … dann hätte ich also … dann wäre ich jetzt … Das sind aufdringliche Gedanken, für die sie sich schämt und die sie verwirren.
Sie kannte niemanden der Leute in der Halle – oder dem Wohnzimmer – und atmete erleichtert auf, als Kris sie abholte, um sich von dem Verstorbenen zu verabschieden. Er ging vor ihr her durch einen langen, mit Tapeten ausgekleideten Gang. An beiden Seiten hingen gerahmte Bilder an der Wand, wie in einem Museum. Irgendwo klopfte Kris sanft an eine Tür. Und dort, in der geballten Stille des dämmrigen Raumes, das scheinbar seine Bibliothek gewesen ist, standen Esther und Marjorie.
Ihr Atem lässt das Glas beschlagen und verbirgt Franks Gesicht. Sie richtet sich etwas auf, lehnt sich vorsichtig auf den Rand des Sarges und sieht auf seine gefalteten Hände. Es sind immer noch schöne Hände, aber ebenfalls alte Hände mit Leberflecken, genau wie ihre eigenen. Zwischen den Sehnen hat die Haut tiefe Furchen. Sie versucht, die Hände zu ergründen. Es ist, als wollte sie an den Händen sehen, wie er eine Haarlocke aus der Stirn strich, wie er den Weinstock bei der Lese festhielt, wie er den Rücken seiner Hand an eine heiße Frauenwange legte, wie seine Hände einen schweren Gürtel mit erbeuteten Vögeln losschnallten, wie sie ein Gewehr spannten, ausrichteten und abdrückten, wie sie über Frauenbrüste strichen und diese sanft auf der Handfläche wogen. Doch wie sehr sie sich auch bemüht, das Einzige, was sie sieht, ist, wie er seine Hand vergeblich nach Hilfe ausstreckte und wie er danach zusammenbrach.
Esther ist diejenige, die alle Geheimnisse kennt. Sie sehnt sich nach einer Zigarette. Sie sieht Ada, die dort ergriffen über dem Sarg lehnt, und Marjorie, die fieberhaft an ihrem Gips herumfummelt – und findet die Stille in diesem Raum unerträglich, die Luft erstickt von all den unausgesprochenen Worten, die alle mit dem toten Mann zu tun haben. Unsere Leben haben sich um seines herumdrapiert, denkt sie, und doch ist er in dieser Geschichte unauffindbar geblieben. Es kommt ihr so vor, als wäre er bereits zu Lebzeiten durch eine Glaswand von der Welt getrennt gewesen.
Sterbliche Überreste, das Wort dringt immer wieder zu Marjorie hindurch. Sie weiß, wie an einem Körper herumgezurrt wird, um es freundlich auszudrücken.
Als sie aufwachte, war Hans anscheinend gerade gestorben, denn er war noch warm. Wenn ich einen Moment früher aufgewacht wäre. Der Doktor kam, zusammen mit Bob, der ein trauriges und verlassenes Kindergesicht hatte. Kurz danach tauchte auf einmal eine schemenhafte Figur aus dem Hades auf, wie aus dem Boden gewachsen stand er plötzlich mit seinem Koffer auf dem Flur. Der Bestatter. Ob sich bitte alle ins Wohnzimmer begeben würden, damit er sein Werk verrichten könnte. Alles war ein absurder Traum. Die Idee, dass sie Hans bei diesem ekelhaften Kerl zurücklassen sollte. Ich bleibe bei meinem Mann, sagte sie hochmütig. Zusammen zogen sie Hans seinen Pyjama aus. Eine unglaubliche Arbeit, denn ein Toter ist schwer wie Blei, und Hans wog ohnehin viel zu viel. Sie kochte noch immer mit Butter und Sahne, weil er das nun einmal so liebte. Sie zog und zerrte und schob an seinem liebenswerten, alten Körper herum und sah, dass er selbst gar nicht da war. Und doch erschrak sie, als der Gesandte aus dem Reich der Toten eine Metallschale mit kaltem Wasser füllte. Hans konnte kaltes Wasser nicht ausstehen. »Ihr Mann fühlt das nicht mehr.« Nichts bekam wirkliche Bedeutung, es ging alles viel zu schnell. Sie wusch den geliebten Körper mit Seife und einem Waschlappen, so wie sie jahrelang die Kranken gewaschen hatte. Hob den bleischweren Arm hoch und wusch ihn unter den Achseln. Zwischen den Fingern. In den Kniekehlen. Unter den Hoden. Ach, mein Geliebter, sagte sie fortwährend mit einem dünnen Stimmchen. Gemeinsam mit dem Bestatter zog sie das beschmutzte Laken unter ihrem Mann weg und ersetzte es durch ein sauberes Handtuch. Die ganze Zeit über sprach der Bestatter mit ihr in lispelndem Ton. Es waren Standardworte, und sie glitten an ihr ab. Sie hörte erst zu, als er fragte, wie sie ihren Mann sehen wollte, wenn
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