Brautflug
Ihr schmaler Körper war sehnig und stark, mit Muskeln wie ein Junge. An regnerischen Sonntagen schleppte sie den Couchtisch in die Mitte der Wohnung und nötigte die gesamte Familie zuzusehen, wie sie auf der glänzend polierten Platte immer höhere Sprünge machte, die sie selbst als »russisch« bezeichnete. Ihr Vater, für gewöhnlich kein Vorbild an Geduld, blieb am längsten von allen als kritikloser Fan in seinem Rauchsessel sitzen und sah vergnügt zu, denn dieses lebhafte Mädchen war sein Augapfel, sein kleiner Liebling, seine Prinzessin. Niemand konnte diesen Mann so um den Finger wickeln wie sie. »Wenn du lachst«, sagte er, »geht die Sonne auf.« Dabei tippte er ihr mit dem Zeigefinger aufs kleine Näschen, das er liebevoll als eigensinnig bezeichnete. Margotchen selbst war unendlich stolz auf ihren Vater, den großen Handelsreisenden im Auftrag eines berühmten Stofffabrikanten. Er war ihr großes Idol.
Er war stolz darauf, dass er Sprachen beherrschte und daher Geschäftsreisen um die ganze Welt machen durfte, um neue Kontakte zu knüpfen. Von diesen Reisen kam er mit beeindruckenden Geschichten und exotischen Geschenken wieder: Wajangpuppen, Kris-Dolche und japanische Kimonos. Er schenkte seinem kleinen Mädchen einen Puppenwagen aus Paris und brachte von überallher Puppen für sie mit, von Nonnenpuppen bis hin zu Matrosenpuppen war alles dabei. Dass die Firma ihn schließlich nicht mehr brauchte, lag nicht an ihm, sondern an der Krise und dem drohenden Krieg. Dennoch schmerzte es. Er kehrte Enschede beleidigt den Rücken und zog mit seiner Familie in ein großes, dunkles Haus nach Zaandam. Obwohl er voller Elan und dank seiner guten Kontakte eine eigene Importfirma für englisches Porzellan und schwedisches Kristall gründete, hatte sein Selbstwertgefühl unter der Kündigung ordentlich gelitten. Seine fröhlichen, verspielten Einfälle verwandelten sich in unvorhersagbare Wutausbrüche. Margotchen flüchtete sich aufs Klo, wenn sich sein Schlüssel im Türschloss drehte. Dort konnte sie in Ruhe horchen, welcher Stimmung er war, wenn er seine Jacke in der Halle aufhängte. War er guter Stimmung, dann war er der liebste Vater der Welt, dann spielte er für sie auf dem Klavier den Flohwalzer, bei dem seine Finger lange Gleitflüge über die Tasten machten, oder er spielte ihre Lieblingsplatte auf dem Grammophon. Das war die mit den Zahnarztgeräuschen, auf der man ein Kind keuchen und gurgeln hörte, während der Bohrer heulte. Man konnte sich wunderbar dabei gruseln. An guten Tagen war er ein unterhaltsamer, charmanter Mann, ein tüchtiger Mann, »der dreimal um die Welt gefahren war«. Er liebte sein Schnäpschen, das Kabarett, Gartenfeste und feine Tischmanieren. Jeden Freitag lud er die Verwandtschaft zu Salzhering ein. Aber so ganz sicher konnte man sich seiner Sache nie sein. Hing der Haussegen schief, dann fing er mit Margots gutmütiger, rundlicher Mutter, die sich nicht wehren konnte, Streit an. Niemand entsprach dann seinen Anforderungen; sie waren alle Versager, die ihn zutiefst enttäuschten. Nur Margotchen konnte ihn mit ihrem eigensinnigen Näschen und ihren fröhlichen Kindersprüngen ablenken. Wenn sie lachte, ging die Sonne auf. Und aus diesem Grunde lachte sie, was das Zeug hielt. War die Sonne einmal aufgegangen, dann musste sie lange weiterlachen, um sie hoch am Himmel zu halten. Und wenn Vater endlich ruhig mit der Zeitung in seinem Rauchsessel saß, dann schlich sie sich zur Haustür hinaus und versuchte, die Nachbarskinder dazu zu überreden, eine Straße weiter zu spielen, weil sie wusste, dass ihn das Geräusch von Kinderstimmen störte.
Ein paar Mal jedoch war auch sie die Dumme.
An einem Sonntagmorgen im Dezember fand sie in ihrem Schuh eine echte kleine Schere, in Form eines Storchenschnabels. Die hatte der Nikolaus für sie gebracht. Sie war überglücklich. Um die Schere auszuprobieren, kletterte sie auf Knien auf den Tisch und schnitt eine tüchtige Ecke aus den Fransen heraus, die über ihr an dem Lampenschirm hingen. »Tu’s nicht, tu’s nicht«, rief ihre ältere Schwester ängstlich, doch da war es schon passiert. Unsicher krabbelte sie zurück ins Bett. Kurze Zeit später riss ihr Vater die Tür auf. Er baute sich vor ihrem Bett auf, verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie schweigend an. Es dauerte eine ganze Weile. Sie fing an zu weinen. Dann zerriss er vor ihren Augen ihr Lieblingsbuch, das mit den hübschen roten und grünen Buchstaben.
Mam,
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