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Brautflug

Brautflug

Titel: Brautflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marieke Pol
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gutes Kind am falschen Ort. Es lag an mir. Du kannst nichts dafür. Die ganze Zeit über verharrte sie in der gleichen Haltung und bemerkte kühl, dass ihr Nacken anfing zu schmerzen und danach ihr Rücken und schließlich auch ihre Beine und der Rest dieses toten Körpers. Sie lauschte den Geräuschen der Stadt. All den Affen, die auf der linken Seite der Straße radelten und sich von Zeit zu Zeit etwas zuriefen, den Straßenbahnen, die vorbeifuhren, mit außen angebundenen Kinderwagen, und dem Trolleybus. Alles ging stumpfsinnig seinen Gang. Manchmal kroch sie zum Radio hinüber – einem riesigen Möbelstück, so wie hier alles kolossal und unbeweglich war – und hörte
Radio Nederland
. Keine Ahnung, warum. Sie würde nie wieder nach Hause zurückkönnen. Sie konnte ihnen nicht unter die Augen treten. Alle Wege waren abgeschnitten.
    Oft dachte sie, dass das alles gar nicht passiert war, dass das Kind noch lebte, es nur irgendwo tief in ihrem Körper versteckt war und irgendwann zum Vorschein kommen würde. Im Badezimmer starrte sie auf die rohe Narbe auf ihrem Bauch – eilige Arbeit, eine fransige Linie Schamhaar bis zum Nabel – und glaubte nicht, dass sie tatsächlich existierte. Dass sie selbst existierte. Aber wenn sie lange genug in den Spiegel sah, musste sie erkennen, dass sie eins wurde mit dem Wesen, das da stand. Erst jetzt sah sie, wie hässlich sie war, von Kopf bis Fuß. Das war ihr nie so aufgefallen, es war fast abstoßend. Diese Entdeckung hielt sie an den Spiegel gefesselt. Wurde ungeduldig von einem Mitbewohner, der ins Bad wollte, an die Tür geklopft, dann blieb sie stocksteif stehen und reagierte nicht. Klopfte die Person weiter, so schrie sie unbeherrscht, sie erkannte sich selbst nicht wieder: You just have to wait for your turn, don’t you? Sogar ihre Stimme war hässlich. Am späten Nachmittag jedes Tages zog sie sich an und ging einkaufen, eine unglaubliche Kraftanstrengung, da ihr Körper sich noch nicht wieder richtig steuern ließ. In den Läden verhielt sie sich so still wie möglich, damit niemand sie auch nur streifte. Wenn sie dann an der Reihe war, wusste sie nicht mehr, was sie eigentlich wollte. Ihr wollte nichts einfallen, weder zum Einkaufen noch zum Kochen. Mein Name ist Weißnicht-will-nicht, und mein Leben ist hier vor diesem Tresen zum Stillstand gekommen. Um mich herum schlendert das Volk, aber das macht nichts, wir stören einander nicht. So leicht geht es doch nicht, sich in Luft aufzulösen. Ich nehme nichts. Ja, Kartoffeln. Und diesen
Pumpkin
, den wir in Holland an die Kühe verfüttern. Irgendwie gelang es ihr doch jedes Mal wieder, alle Treppenstufen zur Erdoberfläche zu erklimmen und abends vor Hans ein
fatty roast
auf den Tisch zu stellen, an dem nichts auszusetzen war. Niemand würde ihr vorwerfen können, dass sie auch als Hausfrau versagte.
    Es sagte überhaupt niemand irgendetwas. Ihre Kiwi-Freunde, mit denen sie so oft am Strand gewesen waren, mit denen sie so gelacht hatten, kamen vergeblich vorbei. Sie machte nicht auf. Esther zeigte sich überhaupt nicht.
    Jeden Sonntag weigerte sie sich erneut, in die Kirche zu gehen. Der Kaplan, der vorbeikam, um zu sehen, wo sie blieb, wurde mit Tee versorgt und danach höflich gebeten, sich nie mehr blicken zu lassen. Ein Gott, der ihr dies antat, konnte sich auf etwas gefasst machen. Bei ihr war er an die Richtige geraten. Aus Solidarität blieb Hans am folgenden Sonntag auch zu Hause, was sie fuchsteufelswild machte, denn sie verlangte nicht nach Solidarität. Geh doch. Aber er war noch nie ein fanatischer Kirchgänger gewesen.
     
    Im April, als ihre Narbe vollständig geheilt war, fuhr Hans mit ihr hinten auf dem Motorrad aus der Stadt heraus zu dem Gelände, wo ihr Wohnwagen stand. Sie knuffte ihm etwas zu hart in den Rücken. »Warum fährst du so langsam?« Man brauchte sie nun wirklich nicht wie ein rohes Ei zu behandeln. Er gab ordentlich Gas, ganz wie sie wünschte. Gerade noch rechtzeitig hielt sie sich an seiner Jacke fest, der Staub der Schotterstraße schlug ihr ins Gesicht. Er kann mich nicht mehr ausstehen, aber jetzt hat er mich am Hals. Sie rückte dichter an ihn heran, legte ihre Wange an seinen Rücken und blieb den ganzen Weg über so sitzen. »Es sollen noch mehr Niederländer in dem Park dort wohnen«, rief er nach zehn Minuten. Rumpelnd fuhr das Motorrad auf ein großes, verlassenes, hügeliges Gelände. In der Nähe eines Flusses, zwischen hohen Kiefern, stand ein länglicher

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