Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brautflug

Brautflug

Titel: Brautflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marieke Pol
Vom Netzwerk:
es kostet sie keine große Anstrengung, es ist, als würde der Wagen sich von selbst schieben. So ist das mit diesen modernen Geräten. Sie muss keinen Blick in den Wagen werfen, um zu sehen, dass ihr Kind darin liegt. Mit den Fingerspitzen umfasst sie den Griff und läuft mit erhobenem Haupt weiter. Die Räder drehen sich. Die Räder drehen sich immer schneller, als hätte der Kinderwagen ein Ziel, als müsste er irgendwohin. Die Frage ist, ob er ihr überhaupt noch gehorcht. Sie muss schneller laufen, um ihn weiter festzuhalten, aber auf einmal kleben ihre Beine wie ein verworrenes Knäuel aneinander, und sie muss den Griff loslassen und zusehen, wie der Wagen mit ihrem Baby zum Rand der Kreidefelsen fährt. Wie gelähmt bleibt sie stehen, sie kann nichts tun, nicht einmal schreien. Nur zusehen, wie der Wagen über die Kante hinweg verschwindet.
     
    Mitten in der Nacht wachte sie auf, schreiend, ohne etwas zu sehen. Sie war schweißgebadet. Hilfe, schluchzte sie, doch ihrem Brustkorb entwichen nichts als rohe, abgehackte Laute. Die Krankenschwester kam vom Flur ins Zimmer geschossen, machte zischende Geräusche und half ihr behutsam hoch. Ein heißer Schmerz in ihrem Bauch und keine Kontrolle über das Sitzen, als wären die Muskeln durchtrennt. Halt mich fest, ich falle, wollte sie schreien, doch ihr fielen keine englischen Worte mehr ein. Marjorie fielen überhaupt keine Worte mehr ein, sie konnte nur noch wortlos schreien. Die Krankenschwester verstand es, eine liebenswürdige Frau mit dicken Armen, die sie festhielt und ihr das durchweichte Nachthemd über dem zitternden, klappernden Leib auszog. Jetzt lasse ich Sie einen Moment los, sagte sie. Nein, kreischte Marjorie, ich kann nicht, ich kann nicht.
    Doch, Sie können, sagte die Krankschwester leise, das können Sie, halten Sie sich mit beiden Händen am Bettrand fest. Die Schwester ergriff die Hände der erbarmungswürdigen jungen Frau und platzierte sie ruhig auf beiden Seiten des Bettes. Nicht loslassen, schrie Marjorie. Sehen Sie, sagte die Krankenschwester freundlich, Sie können es doch. Jetzt hole ich einen Wascheimer, und dann werden wir Sie etwas frisch machen. Lassen Sie mich hier nicht allein, heulte Marjorie im Dunkeln. Ich falle, ich kann nicht.
    Gut gemacht, sagte die Krankenschwester, als sie zurückkam, na sehen Sie, Sie können es doch. Dann rieb sie mit einem Waschlappen und warmem Wasser über den zuckenden Rücken. Über den verschwitzten Hals. So, schon besser. Was für ein Schreck. Haben Sie sich ein bisschen beruhigt? Marjorie spürte das Handtuch unter ihren Achseln, hinter ihren Ohren. Fühlte ein trockenes, sauberes Nachthemd über ihren Kopf gleiten, Arm hoch, sehr gut, anderen Arm, sehr gut. Sehen Sie, es geht schon wieder. Hier ist eine Pille, dann können Sie schön weiterschlafen. Trinken Sie einen Schluck.
    Die Krankenschwester machte leise Geräusche, so, so, so, nun ist es gut, und deckte sie zu. Marjorie schluchzte noch, als sie wieder allein dalag, und wünschte, dass sie für immer in den warmen, anonymen Armen hätte einschlafen können, in diesem Geruch fürsorglichen Schweißes.
     
    Doch mit ihr musste man kein Mitleid haben. Unter keinen Umständen wollte sie dieses Gefühl erwecken. Lieber wollte sie hassen. Der Hass, der glühend in ihren Körper strömte, wurde hart und unbeugsam. Kerzengerade und steif verließ sie das Krankenhaus. Im Souterrain saßen Hans und sie sich schweigend gegenüber und versuchten so wenig wie möglich zu atmen, weil nicht genug Sauerstoff in der Luft war. Mitten auf dem Tisch lag der Brief an zu Hause, der nie zu Ende geschrieben werden würde. Er folgte ihrem Blick und verbarg die Briefbögen in der Schublade der Kommode. Seine Aufmerksamkeit verstärkte ihren Hass. Er brauchte auf sie keine Rücksicht zu nehmen.
    Sie hasste ihren Körper für sein Versagen. Voll Abscheu schob sie ihn zwischen die Laken. Hans wagte nicht, sie zu berühren. Warum sollte er mich auch berühren. Morgens ging er eilig zur Arbeit. Dann legte sie sich auf den Fußboden, ihre Gedanken waren zu schwer, um sich aufrecht zu halten. Sie lag auf dem Teppich mit den dunkelbraunen Karos auf dreckigem, gelbem Grund und atmete Schimmelluft ein. Einem bescheidenen Sonnenstrahl, der durch das hohe Fenster bis zur Mitte der Wand hereinfiel, folgte sie mit den Augen, stundenlang, bis das Licht sein Soll erfüllt hatte und sich wieder zurückzog. Es lag nicht an dir, sagte sie zu dem Kind, du warst ein gutes Kind, ein

Weitere Kostenlose Bücher