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plagte ihn als Bild gewordener Tinnitus und trieb ihn langsam, aber sicher in den Wahnsinn. Als einziger Besucher eines Kinos, Schädel fixiert, Lider auseinandergezwungen wie die des Alex DeLarge in Clockwork Orange , musste er ihren Blick ertragen, ohne dass der Vorführer eine Pause einlegte, also sprang er über seinen Schatten und ließ sich einen Therapeuten empfehlen.
Der Therapeut erklärte ihm, Akzeptanz sei der einzig gangbare Weg.
»Verstehen Sie? Lassen Sie es zu.«
Was prima klang. Etwa so, als gäbe man einem Ertrinkenden den Rat, sich treiben zu lassen.
Danach ging er nicht mehr zu den Sitzungen.
Vielmehr erwog er, sich selbst aus der Welt zu entfernen.
Er ging die Optionen durch. Vom Hochhaus zu springen, verabscheute er in gleicher Weise wie die Vorstellung, sich vor einen Zug zu werfen oder zu ertränken. Sowenig er an ein Leben nach dem Tod glaubte, so gleichgültig hätte es ihm sein können. Stattdessen wurde er geschmäcklerisch wie eine Diva. Flirtete mit der Ästhetik der Methode. Das Planspiel des eigenen Todes nahm Züge eines Hobbys an, bis er schließlich befand, solange man ein Hobby habe, wenn auch nur ein kleines fieses, sei die Zeit vielleicht noch nicht gekommen.
Das rettete ihn.
Denn unerwartet befreiten ihn die Albträume von ihrem Blick. Nicht sofort zwar. Doch mit den Wochen verblasste er, bis er ihn überhaupt nicht mehr sah. Dann hörten auch die Träume auf.
Alles hat sein Verfallsdatum, dachte er.
Falsch, denkt er jetzt. Es wird nie aufhören. Schuld hat kein Verfallsdatum, sie ist ein Zustand.
Schaut an sich herunter. Voll bekleidet. Rappelt sich hoch, geht über kühle, ockergelbe Fliesen, öffnet Vorhänge und Glastür, tritt hinaus auf die Terrasse, und der Gesang wird lauter.
Adhan. Das weiche Rezitativ eines Muezzins.
Aus einem Lautsprecher, angebracht an einem Minarett.
Ashhadu an la ilaha illa allah –
Hagen schaut hinaus auf den arabischen Teil Jerusalems, rote Dächer, Palmen, Zypressen, Wohnblocks. Gleich hinter dem American Colony Turm und Kuppel einer Moschee, beschienen von einer bedenklich tief stehenden Sonne.
Weil es schon nach fünf ist, wie ein Blick auf die Uhr verrät.
Er hört den Aufruf zum Asr , zum Nachmittagsgebet.
Zu dumm.
So lange hat er gar nicht schlafen wollen. Morgen, spätestens übermorgen muss er etwas liefern, das die Skeptiker in Hamburg überzeugt. Schon im Auto hat er mit der Arbeit begonnen, volle Konzentration, und Björklund und Lukoschik haben ihre Unterhaltung rücksichtsvoll gedämpft. Aber was willst du machen, wenn dir 24 Stunden ohne Schlaf in den Klamotten hängen? Das sachte Schaukeln des Wagens, Schnurren des Sechszylinders, alles lullte ihn ein, immer wieder sackte er weg. Zu riskant, er durfte in dieser Sache nicht den kleinsten Fehler machen, also würdigte er die Reize des Hotels, als sie dort vorfuhren, kaum eines Blickes. Lukoschik hatte ein Zimmer im dritten Stock für ihn organisiert, er selbst und Björklund bewohnten nebeneinanderliegende Räume eins drunter. Sie nahmen ihre Schlüssel im Empfang, und schon im Fahrstuhl sagte Lukoschik:
»Völliger Blödsinn, ihr habt euch so lange nicht gesehen. Ich nehme das Zimmer im Dritten.«
»Das ist wirklich nicht –«
»Doch.« Grinste. »Vielleicht wollt ihr ja kuscheln.«
Eindeutig nicht, aber die Idee, Zimmer an Zimmer zu hausen, entfaltete ihren nostalgischen Reiz. Es nährte die Illusion, alles könne wieder so werden wie in den guten alten Zeiten. Natürlich ein Trugschluss. Die alten Zeiten waren nie gut, sie werden nur immer besser, je schlechter man sich dran erinnert. Andererseits minderte es das Gefühl der Einsamkeit, Björklund in der Nähe zu wissen, und schon darum gefiel ihm die Idee. Die Räume verfügten über aneinandergrenzende Terrassen, es gab eine Verbindungstür, und was ist Freundschaft anderes als eine Tür, die zwar manchmal knarrt, aber nie ganz verschlossen ist?
Schlüsseltausch.
Danach verabschiedete sich Hagen aufs Zimmer, prachtvolles Zimmer, das fiel ihm noch auf, nicht einschlafen, nur dösen –
Sechs Stunden sind daraus geworden.
– La ilaha illa allah!
Der Muezzin verstummt.
Und du, sagt er sich, machst dich jetzt mal nicht fertig. Dann dauert das Ganze eben länger. Müssen sie sich halt gedulden in Hamburg, heute Abend will er mit Björklund und Lukoschik auf die Rolle gehen. Er braucht eine Pause, und im Grunde weiß er ja, wie er es anfangen muss.
Zwei Stunden bleiben ihm.
Die wird er nutzen.
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