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Boxer, der versucht, sich selbst auf die Matte zu schicken. Der Kampf ist nicht zu gewinnen. Was haben Sie in Beirut gesehen?«
Blinzelt verwirrt. Hat der Typ eben nicht zugehört?
»Das wissen Sie doch«, sagt er aggressiv. »Was ich gerade erzählt habe.«
»Nein. Sie haben Häuser, Straßen und Steine gesehen. Menschen und Kleidungsstücke. Wolken am Himmel. Gerüche haben auf sie eingewirkt, Lärm. Aber da lärmten keine Teufel, sondern Jeeps und Bulldozer. Nichts, was für sich gesehen bedrohlich wäre. Das Grauen entsteht erst aus dem Zusammenspiel. Dekonstruieren Sie die Szene, und Sie erhalten die Bausteine des täglichen Lebens. Darum erinnert Sie so vieles daran. Die Fassadenfarbe eines Hauses kann reichen, Sie in die Flucht zu schlagen. Was wollen Sie tun? Vor allem davonlaufen?«
Uri schüttelt den Kopf.
»Dann widerstehen Sie dem Impuls.«
»Wie denn?«, fragte er mit Jammerstimme.
»Einfach indem Sie registrieren, was Sie gerade fühlen.«
»Ich fühle nichts.«
»Profaner als Emotionen, Uri. Kälte, Hitze. Süß, sauer, scharf. Das ist der erste Schritt zurück ins Fühlen. Im Klartext, ich will, dass Sie Ihre Scheiße riechen.«
Tief im Abgrund, in dem er sitzt, findet Uri an der Art und Weise Gefallen, wie der Mann ihn behandelt.
Wenigstens nicht wie einen Irren.
Nervt ihn nicht mit übertriebener Rücksichtnahme und Alles-wird-gut-Geblubber, sondern appelliert an seinen Verstand. Damit kann er was anfangen, also geht er nach drei Tagen wieder hin.
»Empfinden Sie eigentlich Scham, Uri?«
»Scham – ja.«
»Sie brauchen sich nicht zu schämen.«
»Finden Sie?« Starrt auf seine Füße. »Ich gebe doch eine jämmerliche Figur ab. Meine Frau hat mich verlassen. Mein Kind hat Angst vor mir. In Beirut war ich schon zu nichts zu gebrauchen, ich meine – warum passiert mir so was?«
»Sie glauben, ihre psychische Labilität sei schuld?«
»Ich weiß nicht.«
»Kein guter Soldat und so. Schlappschwanz.«
Uri zuckt die Achseln.
»Nein.« Der Psychologe beugt sich vor. »Sie haben nicht versagt, Uri. Sie haben nichts falsch gemacht, Sie sind das Opfer. Was meinen Sie, wie oft ich noch ganz andere Kaliber hier sitzen habe. Heulende Muskelberge. Scharfschützen, erprobt im Töten, und plötzlich bricht etwas in ihr Leben ein, und sie verfallen in Angst und Panik und erzählen mir, ihre Gedanken würden sie jagen –«
»Genau!« Uri springt auf, beginnt im Raum herumzugehen. »Nur noch Angst und diese überscharfen Bilder. Alles andere scheint abgeschaltet, ich – ich bin nicht mehr ich selbst!«
»Doch. Sie sind, der Sie immer waren.«
»Ich weiß doch, wie ich vorher war. Ich erinnere mich daran, bloß –«
»Sie kommen nicht an Ihre Gefühle ran.«
»Weil keine mehr da sind.«
»Große Worte, Uri. Denken Sie nach. Ist Panik kein Gefühl?«
»Ja. Danke. Toll.«
Setzt sich, sackt wieder in sich zusammen. Der Psychologe legt den Finger an die Lippen und betrachtet ihn eine Weile.
»Gut, ich erkläre Ihnen jetzt mal was. Sie sind ein Höhlenmensch.«
»Besser als das, was ich gerade bin.«
»Sie spazieren so trallala durch die Steinzeit, und plötzlich steht ein Säbelzahntiger vor Ihnen. Wie reagieren Sie?«
»Ich hau ab.«
»Weil?«
»Alles andere Wahnsinn wäre.«
»Weil Sie nicht anders können. Mut, Selbstbewusstsein, Kampfgeist? Dann hätte der Tiger am Ende des Tages gut gegessen. Sinn für Ästhetik, oh, was für ein schöner Tiger? Das dürfte dann Ihre letzte Empfindung gewesen sein. Nein, Sie sollen rennen, Uri! Schneller, als Sie je dachten, rennen zu können. Zwecks dessen werden bestimmte organische Funktionen und Emotionen abgeschaltet oder runtergefahren, um an anderer Stelle die erforderlichen Kräfte freizusetzen. Panik erzeugt Stress, Ihr Körper schüttet Adrenalin aus, nur noch Ihre für Gefahr zuständigen Rezeptoren sind in Funktion. Physische Beschränkungen werden aufgehoben, Sie verwandeln sich in eine Fluchtmaschine. Selbst Schmerz empfinden Sie keinen mehr, wie Sie da über scharfkantiges Geröll wetzen. Sie hängen den Tiger ab, beruhigen sich, langsam normalisiert sich alles wieder, ein uralter Überlebenstrick der Evolution. – Vor so einem Säbelzahntiger standen Sie in Beirut. Nur dass etwas schiefging. Die Gefahr zog vorüber, aber Sie fanden nicht aus dem Stress-Modus raus, wie die Natur es eigentlich vorsieht. Bis heute läuft das Panikprogramm weiter. Als Folge können Sie keine ausgewogene Gefühlslage herstellen und werden von
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