Brechreizend - Die fiesesten Reiseziele der Welt
Silvesterabend
E s gibt nur zwei Situationen, in denen einer herabsinkenden Kugel bemerkenswerte Bedeutung zukommt: in der Adoleszenz, wenn die jungen Männer ihre Hoden entdecken – und am Silvesterabend auf dem Times Square. Da ich mit der ersten Variante keine persönlichen Erfahrungen verknüpfe, gehe ich gleich zur zweiten über. Ich beginne mit einer Warnung: Wenn Sie Wert auf Ihren Verstand und Ihre Gliedmaßen legen und Ihre Blase Ihnen nicht egal ist, dann sollten Sie für Ihre Silvesterfeier einen anderen Ort wählen.
Das Ganze begann im Jahr 1904, als Adolph S. Ochs, der Eigentümer der New York Times , zur Eröffnung seines neuen Verlagshauses am Times Square Nr. 1 eine Silvesterparty feierte. Mit einem ganztägigen Straßenfest und einem tollen Feuerwerk war die Party so erfolgreich, dass sie schnell zu New Yorks begehrtester Silvesterfeier avancierte.
Die Kugel kam allerdings erst 1907 ins Spiel, als Ochs einen 700 Pfund schweren Ball aus Holz und Eisen mit hundert 25-Watt-Glühlampen anfertigen ließ, der vom Flaggenmast des Turms langsam hinuntersinken sollte, um so den Beginn des Jahres 1908 zu feiern. Die Kugel ist im Verlauf der Jahre mehrmals verändert worden. Das Jahr 1920 wurde mit einer 400-Pfund-Kugel aus Eisendraht begrüßt, 1955 schwebte dann eine Aluminiumkugel von nur noch 150 Pfund herab. 1980 verwandelten rote Glühlampen und ein Stiel die Kugelin einen Apfel und damit in das Markenzeichen der Marketing-Kampagne »I Love New York«. Der Jahrtausendwechsel schließlich wurde mit einer Kugel aus Waterford-Kristall begrüßt. Die bislang letzte Kugel wurde 2009 enthüllt: Sie ist aus Kristall gefertigt und mit mehr als zweiunddreißigtausend LED s verziert. Mit einem Durchmesser von dreieinhalb Metern und einem Gewicht von sechs Tonnen stellt sie alle bisherigen Kugeln in den Schatten.
Doch selbst eine Sechs-Tonnen-Kugel ist kein ausreichender Grund, den Silvesterabend auf dem Times Square zu verbringen. In der »guten alten Zeit« blieben betrunkene Nachtschwärmer hinter den Holzabsperrungen, feierten bis zum Morgengrauen und bestiegen anschließend den Zug nach Long Island. Heutzutage wird das Event genauestens von der New Yorker Polizei kontrolliert, die jeden Partygänger zunächst einmal verdächtigt, ein mutmaßliches Mitglied der Al Qaida zu sein. Rucksäcke und große Taschen sind verboten, und keiner gelangt auf den Times Square, ohne zuvor einen Metalldetektor passiert zu haben.
Wenn Sie Ihr Ziel schließlich betreten haben (Sie sollten früh kommen – die ersten Besucher stehen bereits um die Mittagszeit an), geraten Sie gleich in einen Stau. Um die Menschenmassen zu kontrollieren und die Leute daran zu hindern, nach vorn zu drängen, scheucht die Polizei sie in mit Metallgittern abgesperrte Bezirke, eine Art Gehege, das erst verlassen werden darf, wenn die Uhr zwölf schlägt. Sollte Ihnen das Eingesperrtsein nicht behagen, glauben Sie bloß nicht, Sie könnten an Ihren Ausgangspunkt zurückkehren. Gegen Mitternacht reicht der Verkehrsstau bis zu Penn Station zurück – das sind immerhin acht Blocks.
Und glauben Sie mir, es gibt wirklich gute Gründe dafür, den Times Square zu verlassen. Zunächst einmal ist es bitterkalt. Der Januar ist der kälteste Monat in New York, und um Mitternacht ist es im Januar in New York noch kälter. Die Organisatoren fordern die Besucher des Times Square auf, sich inwarme Kleidungsstücke zu hüllen, aber ich gehe noch einen Schritt weiter und sage: Ziehen Sie alles übereinander, was Sie besitzen.
Natürlich wäre es schön, sich mit einer Tasse Suppe aufwärmen zu können. Aber machen Sie sich diesbezüglich keine allzu großen Hoffnungen: An Silvester dürfen auf dem Square keine Lebensmittel verkauft werden. Wenn Sie also Ihre Taschen nicht mit Schokoriegeln vollgestopft haben oder erwägen, in einem der am Platz gelegenen Restaurants ein kleines Vermögen zu lassen (was außerdem dazu führt, dass Sie Ihren Platz im Gehege verlieren!), dann laufen Sie Gefahr, das neue Jahr mit knurrendem Magen zu begrüßen.
Außerdem müssen Sie nüchtern feiern, denn auf der größten Silvesterfeier der Welt ist der Konsum von Alkohol nicht gestattet. Einige Zeitgenossen gießen sich daher schon im Voraus einen hinter die Binde – ungefähr ab 10 Uhr morgens. Die Sache hat noch einen weiteren Haken: Es gibt keine Toiletten. Wirklich! Da sammeln sich fast eine Million Besucher auf dem Times Square – manche von ihnen kommen bereits
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