Breed: Roman (German Edition)
zwei, drei Meter weit entfernt. Flucht? Die ist unmöglich. Hoffnung? Es gibt keine Hoffnung.
»Dad!«, schreit Adam, der die Nähe seines Vaters spürt, dessen Atem hört, ihn riecht.
Michael hebt Adam rasch hoch, um ihn über die Mauer zu ziehen, doch er hat nicht rasch genug gehandelt. Außerdem ist er nicht stark genug. Und heute, so scheint es, ist ohnehin nicht sein Tag.
Adams Tag ist es offenbar auch nicht. Mit der herzlosen, unbeugsamen Kraft der Ewigkeit schließt sich die Hand seines Vaters um seinen Knöchel, und er ist gefangen.
Alex dreht Adam zu sich herum, packt ihn fest an den Schultern und hebt ihn hoch, bis die Nasenspitzen der beiden sich fast berühren. Sein Körper strahlt Hitze aus, als würde er im Innern brennen. »Ist das der kleine Junge, der seinem Vater gesagt hat, er soll sich verpissen?«, fragt er.
»Nein«, antwortet Adam kaum hörbar.
»Ist das der kleine Junge, der Familiengeheimnisse verrät?«
»Adam!«, schreit Alice.
Michael muss sie festhalten, damit sie nicht über die niedrige Mauer klettert und sich ebenfalls fangen lässt. Er zieht sie an sich. Als sie gemeinsam zurückweichen, stolpern sie und fallen um ein Haar über verschlungene Ranken, die sich gegen den Winter gewappnet haben, kalt und hart.
»Geben Sie mir meine Tochter«, sagt Twisden. Seiner Stimme nach scheint er zu kochen, doch trotz seiner Wut zucken Zweifel auf. Wie kann er den Jungen festhalten und gleichzeitig das Mädchen packen? Was sehen die Leute gerade? Was denken sie?
»Dad, bitte«, sagt Adam.
Alex schaut Adam an, als hätte dessen Stimme ihn erschreckt.
»Die werden noch entkommen!«, ruft er.
»Lass mich runter, Dad, bitte, lass mich runter.«
Ein junges Paar, das seinen Australian Shepherd spazieren führt, ist stehengeblieben und starrt unverhohlen auf Alex und Adam, während der Hund mit angelegten Ohren und gesträubten Nackenhaaren dasitzt. Sein kupierter Schwanz zuckt nervös.
»Warten Sie mal, bis Sie selbst Kinder haben«, sagt Alex mit einem gutmütigen Grinsen. Jedenfalls hofft er inständig, dass es so aussieht. Er hebt Adam höher und hält ihn in der Armbeuge, als wäre sein Sohn ein Dreijähriger, der sich beim Spielen verausgabt hat und nun getragen werden muss. Dieser vertraute Anblick scheint das junge Paar zu beruhigen. Würde es allerdings wahrnehmen, wie nervös sein Hund sich verhält, wäre es womöglich nicht ganz so vertrauensselig. Freilich kann man den beiden keinen Vorwurf machen, dass sie nicht merken, mit welcher Kraft dieser Mann das Bein seines Sohnes packt. Und da es für die meisten Menschen selbstverständlich ist, die Privatsphäre des Familienlebens ebenso zu respektieren wie das Privateigentum, ruckt der junge Mann gebieterisch an der Hundeleine, und die beiden setzen ihren Spaziergang fort.
»Dad?«, sagt Adam mit seiner leisesten, ängstlichsten Stimme.
Alex, der sich vergewissert hat, dass das Paar und sein saftig aussehender Hund tatsächlich weiterziehen, wendet sich wieder Adam zu.
Adam hat genau eine Sekunde Zeit, seinen Plan auszuführen, und er vergeudet sie nicht. Sobald sein Vater ihm vollständig den Kopf zuwendet, stößt er ihm fest und unbarmherzig den Finger in das kühle Gelee des linken Auges.
Alex heult auf vor Schmerz. Er greift nach der pulsierenden Flamme seines Auges, bedeckt dieses mit der Hand und lässt Adam dabei auf den Boden fallen.
»Tut mir leid«, wimmert Adam, während er hastig über die Mauer klettert und auf Alice und Michael zurennt, die in dreißig Meter Entfernung auf ihn gewartet haben.
Auf der anderen Seite der gekrümmten Straße, die die Ostseite des Central Park mit dem Westen verbindet, steht das monumentale Metropolitan Museum of Art, und Michael führt die Zwillinge rasch und ohne auf Gefahren zu achten über die Straße, wobei sie Taxis, Lieferwagen und Limousinen ausweichen müssen. So schnell sie können, laufen sie an den Leuten vorbei, die Postkarten, Pastellporträts und Brezeln verkaufen. Wegen des rauen Wetters sind heute nicht so viele hier.
Vor den dreien erhebt sich die imposante weiße Steintreppe, die zum Museum führt. Über dem Eingang hängen Banner, die für die Welt Watteaus, die Schätze des Topkapi-Palastes und die Darstellungen des Bösen werben – das Banner für die letztgenannte Ausstellung ist aus dunkelroter Seite und trägt die Silhouette von Luzifer. Der steht mit gehobenen Armen da, in der einen Hand eine Teufelsgabel, in der anderen einen Menschenkopf. Ohne sich
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