Breed: Roman (German Edition)
der Wohnung herrscht; Leslies Kinder sitzen mit sechs von den Parkkindern auf einem Sofa. Aus dieser Entfernung sehen sie wie ganz gewöhnliche Kinder aus, die herumhängen und ihre Zeit verplempern. Adam hat einen Videospielcontroller in den Händen, Rodolfo ebenfalls, und die beiden sind mit einem Spiel beschäftigt, dessen Soundtrack aus einem nicht enden wollenden Dauerfeuer automatischer Waffen und dem Heulen von Polizeisirenen zu bestehen scheint. Wie können die nur diese Sirenen hören und nicht daran erinnert werden, was direkt vor ihren Augen geschehen ist? Wo stecken die nur ihre Erlebnisse hin? Wie leben die eigentlich?
»Leslie?« Amélie streckt die Hand über den Tisch und berührt Leslie am Arm, worauf diese sich ihr mit erschreckender Flinkheit zuwendet, mit wachen Augen und geschürzten Lippen. Amélie hebt beschwichtigend ihre Hand.
»Möchten Sie Ihren Sohn nicht sehen?«, fragt Amélie. »Ihren anderen Sohn?«
»Nein. Nicht noch mehr. Bitte. Ich will, dass alles aufhört.«
»Ich muss darauf bestehen, Leslie.« Amélie hat einen Sinn für Gerechtigkeit, und der muss befriedigt werden. Jahrelang hat sie sich um Bernards immer weiter zunehmende Bedürfnisse gekümmert, hat gemeinsam mit ihm unter den Erniedrigungen seiner Entstellung gelitten, hat mit ihm den bohrenden Schmerz seiner Tage ertragen. In dieser Zeit hat sie nie daran gezweifelt, dass es richtig war, jene zu überlisten, die ihn auslöschen wollten – sie war bereit, allen die Stirn zu bieten, den Ärzten, den anderen Schwestern, ja der Natur selbst. Und dafür wollte sie nie eine Entschädigung, mit einer einzigen Ausnahme: Sie wollte, dass die Mutter sieht, wen sie im Stich gelassen hat.
»Ich habe zehn Jahre damit verbracht, mich um jemand zu kümmern, um den Sie sich hätten kümmern sollen«, sagt sie. »Und nun sind Sie hier, haben mehr Probleme, als Sie sich je vorgestellt haben, und trotzdem verstecken Sie sich – vor wem? Vor der Polizei? Vor allen Menschen auf der Welt? Vor sich selbst? Und Sie bitten mich um Hilfe. Wenn Sie diese Hilfe wollen, Leslie, dann müssen Sie Ihren Sohn sehen.«
Amélie schiebt ihren Stuhl zurück, steht auf und fordert Leslie mit einer gebieterischen Geste auf, ihr zu folgen. Gemeinsam gehen sie durch das Zimmer, wo die Kinder vor dem Bildschirm hocken. Sie senken alle den Blick und schweigen, wodurch der Lärm des Videospiels noch lauter wirkt.
»Bernard?«, sagt Amélie und klopft an seine Zimmertür. Sie blickt über die Schulter zu Leslie. »Vielleicht ist er noch ein wenig groggy.«
»Ich muss nachdenken«, sagt Leslie. Sie reibt sich die Stirn.
»Wenn Sie hierbleiben wollen, müssen Sie tun, was ich Ihnen sage. So einfach ist das.« Sie klopft erneut an Bernards Tür, wartet diesmal jedoch nicht auf eine Antwort, bevor sie sie öffnet.
Offenbar hat der Junge es geschafft, wach genug zu werden, um seine Mutter im Krankenhaus anzurufen, aber nun ist er tief in einem betäubenden Schlaf versunken. Seine zweifingrige Hand umklammert noch das Telefon. Selbst aus der Entfernung und trotz der Dunkelheit im Zimmer sieht Leslie genug von Bernard, um ungewollt ein bestürztes »Oh!« auszustoßen.
»Wie können Sie es wagen!«, faucht Amélie. Sie tritt zu Bernards Bett, nimmt ihm das Telefon ab und hebt seine Hand, um sie Leslie zu zeigen. »Sehen Sie das?«, fragt sie und fährt mit der Fingerspitze über Bernards rötliches Muttermal, einen kleinen roten Schnörkel, der genauso aussieht wie das Zeichen auf der Hand von Leslies anderen Kindern.
Leslie schweigt. Sie ist lediglich in der Lage, mit dem Kopf zu nicken. In ihrem Kopf kollidieren die geschehenen Katastrophen, bis sie nicht mehr genau erkennen kann, wo die eine aufgehört und die nächste begonnen hat.
Plötzlich spürt sie, wie etwas sie am Rücken berührt. Zitternd zuckt sie zusammen, dreht sich um und sieht Alice, die zu ihr emporschaut.
»Mom?«, fragt das Mädchen. »Gehen wir jetzt nach Hause?«
Leslie und Amélie sind in einem Supermarkt an der Ecke Broadway und Seventy-Fourth Street und füllen ihren Einkaufswagen mit Nahrungsmitteln für die Kinder. Auf dem Weg von Amélies Wohnung hierher sind sie an einem Streifenwagen mit zwei miteinander plaudernden Cops, einem berittenen Polizisten und zwei Streife gehenden Beamtinnen vorbeigekommen, von denen niemand Leslie auch nur die geringste Beachtung geschenkt hat.
Vielleicht ist es gar nicht geschehen
, denkt Leslie. Doch die Erinnerung reagiert rasch und
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