Breed: Roman (German Edition)
komm mal her«, ruft Rodolfo aus dem Wohnzimmer. »Schau dir das an, schau es dir an!« Er hat die Arme ausgestreckt, und seine beiden Zeigefinger sind auf Alice gerichtet. Als sie ihn anschaut, schnippt er mit den Fingern, schiebt das Becken vor und grinst.
Eiskalter Regen prasselt auf die Stadt, und als Leslie und Amélie mit den Einkäufen hereinkommen, sind sie fast bis auf die Haut durchnässt.
»Mom!«, rufen Adam und Alice, sobald sie sie sehen.
»Komm her«, sagt Adam. »Das musst du dir anschauen.«
Leslie steht hinter Bernard, der auf seinem Computer ein Video aufgerufen hat. Es zeigt Dr. Kiš, der am Schreibtisch sitzt, hinter sich ein Fenster voller Sonnenlicht.
»O Gott«, sagt Leslie.
Zaghaft berührt sie von hinten die Kapuze, die Bernards Kopf bedeckt.
Mein Sohn
, denkt sie.
Diese Geste bleibt Adam und Alice nicht verborgen. An ihrer Mutter diesen zärtlichen Moment zu sehen, erinnert die beiden an die Liebe, die sie ihnen entgegengebracht hat, und an die Liebe, die sie selbst empfinden, aber vor allem erfüllt es sie mit
Hoffnung
. Woher kommt Hoffnung, wenn sie auf wundersame Weise erscheint; wohin geht sie, wenn sie verschwindet? Keine Röntgenaufnahme, keine MRT , keine Computertomographie kann den Quell der Hoffnung lokalisieren, und doch war er in jedem Augenblick des Erduldens und in jedem Triumph vorhanden. Als die Zwillinge sie nun wahrnehmen, erkennen sie, wie lange sie ohne Hoffnung gelebt haben, so wie man erst erkennt, welche Schmerzen man empfunden hat, wenn die Qualen enden.
Bernard klickt auf das Start-Icon, und Kiš beginnt zu sprechen.
»Wie manche von Ihnen bereits wissen, biete ich seit fast fünfzehn Jahren Fruchtbarkeitsbehandlungen an. Hunderte von Menschen sind zu mir gekommen, viele ohne Hoffnung. Es ist mir nicht gelungen, allen Patienten ein Kind zu schenken, aber meine Erfolgsquote ist in der modernen Fruchtbarkeitsmedizin unerreicht. Es sind Artikel in der französischen Zeitschrift
Paris Match
, im deutschen
Spiegel
, in der russischen
OK
!, in der amerikanischen
Town & Country
und natürlich in zahlreichen medizinischen Fachzeitschriften erschienen. Es ist keine Frage, überhaupt keine Frage, also täuschen Sie sich nicht, meine Freunde – ich bin in aller gebotenen Bescheidenheit der führende Fruchtbarkeitsspezialist in Europa und der ganzen Welt.
Hat es Irrtümer gegeben? Natürlich gab es die. Waren manche davon … bedauernswert? Ja, ohne Frage …«
»Später sagt er, er kann es wegmachen«, platzt Adam heraus, unfähig, einfach schweigend dazustehen, während Leslie mit halb offenem Mund auf den Bildschirm starrt und hört, wie der ferne Doktor das, was er getan hat, rechtfertigt.
»Mom«, sagt Alice. »Mom …« Ihre Beine fühlen sich an, als wären sie aus Blei. Ihr Bauch tut weh, ihre Augen brennen. Sie weiß, dass sie jetzt weint, und das ist ihr irgendwie peinlich, aber es ist nicht so schlimm. Sie spürt eine tröstende Hand auf ihrer Schulter – Rodolfo. »Mom? Mom?«
»Ach, Liebes«, sagt Leslie und zieht ihre Tochter und ihren Sohn in ihre Arme. »Es tut mir so leid …«
Die Nachrichtensender überschlagen sich mit Berichten über die bizarre Mordtat im Central Park und über den Mörder, der wie ein Wahnsinniger mitten in den Verkehr auf der Fifth Avenue gerannt ist, wo er von einem Bus der Linie M 1 hingerichtet wurde. Zuerst wird darüber in den Lokalnachrichten berichtet, dann nehmen die nationalen Kabelsender rasch den Faden auf, und auch die großen Networks können nicht widerstehen. Für die Redaktionen ist die Story ein quasi unerschöpfliches Geschenk. Da einer der Toten ein einst prominenter New Yorker Anwalt und der andere ein beliebter Lehrer an einer ebenso prestigeträchtigen wie kostspieligen Privatschule an der Upper East Side war, der die Kinder des mutmaßlichen Mörders unterrichtet hat, verbreitet die Story sich im Fernsehen und im Internet wie in einer Endlosschleife. Da ist ein Stadthaus, elegant, fürchterlich teuer und ein klein wenig vernachlässigt. Da ist die übergewichtige Nachbarin, die weitschweifig erzählt, wie die Kinder aus dem Fenster geklettert sind. Da ist die in den Himmel ragende Fassade des Verlagshauses, in dem die Mutter früher gearbeitet hat. Da ist der Glaskasten, in dem Alex Twisden die Juristerei als Lasso verwendet hat, um Geld für seine Mandanten an Land zu ziehen. Da ist die gotische Fassade der Schule. Da ist das wunderschöne Büro des Direktors. Da sind die entgeisterten
Weitere Kostenlose Bücher