Breed: Roman (German Edition)
wollen«, fragt Adam.
Alice schweigt. Nach einigen Augenblicken schiebt sie ihr eigenes Messer über die Tischkante und lässt es in ihren Schoß fallen. Als sie es gerade in ihre Tasche schiebt, weckt etwas ihre Aufmerksamkeit. Auf der anderen Seite des schmalen Flusses steht eine Frau und blickt direkt zu ihnen hinüber. Einen flüchtigen, angstvollen Moment lang meint Alice, es sei Leslie, doch dann tritt die Frau aus dem Licht und verschwindet im Abend. Bevor Alice ihrem Bruder etwas davon erzählen kann, kommt die Kellnerin mit der Pizza.
»Zwei Pizzas für euch«, sagt sie und stellt klappernd die Teller auf den Tisch. »Noch etwas?«,
»Nein, danke«, sagt Alice. »Alles in Ordnung.«
»Darf ich euch was fragen?«, sagt die Kellnerin. »Seid ihr Zwillinge?«
»Ja«, sagt Adam.
»Meine Wahrsagerin hat gemeint, ich treffe heute Zwillinge, und dann soll ich sie oben am Kopf berühren, weil mir das total viel Glück bringen wird.« Ihre Hände schweben schon über den Köpfen der beiden. »Okay?«
»Okay«, sagen die Zwillinge.
Die Hände der Frau sind warm, und ihre Berührung ist sanft.
»Danke«, sagt sie.
»Kein Problem«, sagt Adam.
Entweder sind sie hungriger, als sie es je gewesen sind, oder das ist die beste Pizza, die sie je gegessen haben, und einen Moment lang sind sie glücklich.
Doch dieser Moment des Glücks wird vorzeitig durch die Stimme einer Frau beendet, die elend jammert. Ihr Heulen kommt immer näher und näher, bis sie direkt vor den beiden auf dem Gehweg steht. Sie hat dunkles gewelltes Haar, in dem die nächtliche Feuchtigkeit funkelt wie Diamanten. Sie trägt einen roten Wollmantel und Kniestiefel, und sie hält eine Leine in der Hand, aber ohne Hund. Rasch und atemlos beginnt sie zu sprechen, und als sie in die Richtung deutet, aus der sie gekommen ist, sehen die Zwillinge, dass ihre Hand mit Blut bespritzt ist. Obwohl sie kein Wort von dem verstehen, was die Frau sagt – und auch nichts von dem, was die anderen Leute sagen, die sich inzwischen versammelt haben –, erkennen sie beide aus dem qualvoll verzerrten Gesicht der Frau und der ungläubigen Miene der anderen, dass jemand ihrem Hund gerade etwas Furchtbares angetan hat.
Ins Hotel zurückgekehrt, geht Alice duschen, während Adam das Messer aus der Pizzeria und den Korkenzieher aus der Minibar nimmt und in seinen Rucksack stopft. Als Nächstes ist er mit Duschen dran. Beide sind erschöpft. Sie taumeln fast durchs Zimmer.
»Ist es so, wenn man betrunken ist?«, fragt Alice.
»Warum sich wohl irgendjemand so fühlen möchte?«, wundert sich Adam.
In ihre Handtücher gewickelt, legen sie sich aufs Bett, schalten den Fernseher ein, zappen mit der Fernbedienung und sehen sich die erste Sendung auf Englisch an, die sie finden können – einen alten Film über einen schwarzen Lehrer, der an einer strengen Schule in England unterrichtet und dort das Vertrauen und die Bewunderung der weißen, von Vorurteilen geprägten Schüler gewinnt. Als Alice sieht, dass Adam sich den Arm über die Augen gelegt hat, ergreift sie die Initiative und schaltet das Gerät aus.
»Der arme Mr. Medoff«, murmelt Adam.
»Er war wirklich nett«, sagt Alice.
Beide haben das Gefühl, zu müde zu sein, um einschlafen zu können. Es ist, als fehlte ihnen die Energie, die nötig ist, um die Tür zum Bewusstsein zu schließen. Irgendwann stützt Alice sich auf einen Ellbogen und knipst die Nachttischlampe aus, woraufhin der Raum in einen Schacht aus völliger Dunkelheit stürzt. Das tut Alice ebenfalls, und dann liegt sie leicht und träumerisch atmend neben Adam, während dessen Herz zu pochen beginnt. Aus reiner Bosheit hat ihn die Angst gepackt wie einer jener fremden Männer in der Nacht, vor denen seine Eltern ihn immer gewarnt haben und die dich nur deshalb packen, weil sie die Gelegenheit dazu bekommen und weil sie es mögen, dich zu packen.
Adam streckt den Arm über seine schlafende Schwester und knipst die Lampe wieder an. Der Raum springt ihm entgegen wie ein Schachtelteufel. Adam sieht sich um. Dort ist nichts, und da auch nicht. Niemand da. Keine Gefahr. Er schaltet die Lampe aus und schließt die Augen. Dann gleicht er seine Atemzüge dem Aus-und Einatmen seiner Schwester an, bis auch er eingeschlafen ist.
Aber was nützt der Schlaf, wenn er dich nur den Klauen fiebriger Träume ausliefert? Adam träumt von Mr. Medoff. Von den Bronzeschwertern aufgespießt, jedoch sehr lebendig, blickt dieser Adam an und spricht mit ihm, als
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