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Breed: Roman (German Edition)

Breed: Roman (German Edition)

Titel: Breed: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chase Novak
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von ihren Schülern nicht gesehen zu werden. Diese machen sich auf den Weg zu der Platane, wobei Alice wie üblich ein wenig hinterherzockelt – sie hat eine Strategie entwickelt, durch die ihr Ausschluss von der Gruppe durch ihr langsames Tempo bedingt zu sein scheint und nicht dadurch, dass man ihre Gesellschaft ablehnt.
    Gerade als Alice die ersten Linien ihrer Zeichnung zieht, wird ihre Aufmerksamkeit vom Geräusch krachender Blätter und Zweige angezogen. Sie wendet sich der Quelle zu und sieht, dass unter einem Weißdornstrauch, etwa so groß wie ein Kühlschrank, ein Augenpaar aufblitzt. Jemand – ein Kind – hockt dort im Versteck. Daran, wie das Kind atmet – o ja, das kann sie hören, und wie sie das hören kann! –, erkennt sie, dass sein Herz wild vor Furcht ist. Vor so viel Furcht, dass Alice sich selbst fürchtet.
    Ihre Hand beginnt zu zittern. Sie zwingt sich, die Platane zu zeichnen, doch die Linien, die sie zieht, springen auf und ab wie der Graph eines EEGs. Sie schließt die Augen und atmet tief.
Wer bist du?,
denkt sie. Und eine Stimme in ihr antwortet:
Schau mich nicht an!
    Einen Augenblick später kommt ein Mann auf einem lächerlich aussehenden hellroten Roller mit Gasantrieb vorbeigetuckert. Der Mann hat strähniges braunes Haar, das ihm bis auf die Schultern herabfällt, und einen dichten, schaufelförmigen Bart. Er trägt einen langen Wollmantel. Trotz des lächerlichen Rollers sieht der Mann grimmig, furchteinflößend und sehr, sehr zornig aus. Er bewegt den Kopf von links nach rechts, während er mit den Augen die Wege und Rasenflächen absucht. Offenbar sucht er nach etwas, und Alice ist sicher, dass dieses Etwas unter den Sträuchern hockt, verborgen und in panischer Angst.
    »Caleb!«, ruft der Mann. »Komm schon, Junge. Alles in Ordnung. Caleb?«
    Er hält an, stellt den Motor seines Rollers ab, und blickt sich mit erhöhter Intensität und Konzentration um. Er spürt etwas …
    »Caleb?«, ruft er, diesmal leiser. Er macht ein Kussgeräusch, wie um einen Hund oder ein anderes Tier zu beruhigen. Er wartet. Wartet. Schließlich greift er in seine Tasche und zieht einen kleinen silbernen Zylinder heraus, dessen Ende er in seinen Mund steckt und bläst – seine Backen blähen sich auf. Keines der anderen Kinder scheint das hohe, schrille Geräusch der Pfeife zu hören, doch für Alice ist es fast unerträglich. Der Schmerz, den es ihr verursacht, ist so plötzlich und erschreckend, wie mitten in der Dunkelheit von jemandem gepackt zu werden. Sie presst die Hände auf die Ohren. Ihr Herz jagt, ihre Beine sind kalt und zittrig wie Schlangen.
    Nach einigen weiteren Stößen in seine entsetzliche Pfeife hat der Bärtige die Überzeugung gewonnen, dass Caleb nirgendwo in der Nähe ist. Er lässt den Motor seines Rollers wieder an. Für Alice ist das tiefe, rasche Tuckern der kleinen Maschine nach den Dolchstößen der Pfeife eine Erleichterung.
    Als der Roller außer Sicht ist – sie kann ihn allerdings noch tuckern hören, trotz des Stroms aus Lärm, der auf der Fifth Avenue nach Süden fließt –, vergewissert sich Alice, dass Ms. Delaney nicht herschaut, dann huscht sie zu dem Strauch, unter dem sie die blitzenden Augen gesehen hat. Sie teilt die steifen, nackten Zweige. Es riecht nach Erde und vermodernden Pflanzen; irgendwo ist auch der scharfe Wacholderduft von Katzenurin hineingemischt. Die Zweige leisten Widerstand, als Alice sich abmüht, sie auseinanderzubiegen, und einen Moment denkt sie, der Junge würde nicht mehr dort kauern.
    »Hallo?«, ruft sie leise.
    »Geh weg«
, erwidert eine kratzige, hektische Stimme. »Geh weg, oder ich bringe dich um.«
    Alice fällt zurück und landet auf ihrem Hinterteil, so erschrocken, dass die Welt vor ihr zu knattern und zittern scheint wie eine Fahne in starkem Wind. Die Hände hinter sich aufgestützt und die Fersen in den Boden gestemmt, krabbelt sie rückwärts, weg von dem Strauch, weg von der Stimme, in einem panischen Krebsgang.
     
    Teils wegen seiner fortgeschrittenen Lesefertigkeiten und teils, um die Zahl der gemeinsamen Kurse mit seiner Schwester zu reduzieren, hat man Adam in einen Englischkurs gesteckt, in dem Schüler aus der vierten bis sechsten Klasse sitzen. In diesem Semester wird die Bibel in einer älteren Übersetzung als literarischer Text behandelt, unter der Leitung eines der beliebteren Lehrer der Schule, Michael Medoff. Mr. Medoff ist ein großer, kräftig gebauter Mann Anfang dreißig mit welligem Haar, einer

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