Breed: Roman (German Edition)
beschützen sollten.
»Was meinst du damit, Adam?«, fragt Michael mit leiser, ruhiger Stimme.
Adam schüttelt den Kopf.
»Schlägt dein Vater dich?«, fragt Michael.
»Nein.«
»Und deine Mutter?«
»Nein.«
»Versohlen sie dir richtig heftig den Hintern? Schütteln sie dich? Verdrehen sie dir den Arm?«
»So was nicht.«
»Was dann? Bedrohen sie dich?«
Wieder schüttelt der Junge den Kopf, zuckt die Achseln und wendet den Blick ab.
»Worum geht es dann eigentlich, Adam?«
»Um das, was ich weiß.«
»Und was ist das? Was weißt du?«
»Dass spät in der Nacht etwas mit ihnen passiert. Sie werden anders.«
»Erwachsene haben ihre eigene Zeit, sie haben Erwachsenenzeit. Dann sind sie anders, als wenn sie mit ihren Kindern zusammen sind.«
»Das meine ich nicht.«
»Bist du dir sicher?«
»Ja.«
Michael seufzt. »Ich weiß nicht recht, Adam. Es hört sich ganz so an, als wäre bei dir zu Hause eigentlich alles in Ordnung.«
»Die werden uns umbringen«, sagt Adam mit gerötetem Gesicht und erhobener Stimme. »Ich glaube nicht, dass sie was dagegen tun können. Jedenfalls passiert etwas in der Nacht. Ich lüge nicht. Es stimmt, das schwöre ich bei Gott. Sie wollen …«
Seine Stimme bricht, und er blickt zu Boden. Sein ganzer Körper zittert.
»Sie wollen uns essen«, sagt er mit einem kaum hörbaren Flüstern.
Als Bernards Mutter nach ihrer Schicht plus Überstunden im Krankenhaus nach Hause kommt, findet sie den Jungen in seinem Bett vor, vollständig bekleidet und schluchzend. Dieser Anblick wirkt eher erschöpfend als beunruhigend auf sie, denn sie hat Bernard unzählige Male so gesehen. Seit er in letzter Zeit allmählich heranwächst, findet sie ihn sogar meistens in verschiedenen Stadien der Verzweiflung vor, verursacht von Einsamkeit wegen seiner Isolation, von Frustration, weil er körperlich so stark eingeschränkt ist, oder von Scham und Ekel, wenn er ihre strenge Ermahnung missachtet hat, sich vom Spiegel fernzuhalten, von jedem beliebigen Spiegel und auch von allem anderen, das eine reflektierende Oberfläche hat, sei es ein Toaster oder ein Löffel.
Die Mutter, Amélie Gauthier, setzt sich auf seine Bettkante und tätschelt ihm den Rücken. Sie ist müde, so müde, müder, als ein Mensch es sein sollte. Sie spürt die Erschöpfung wie einen steten Regen durch ihren Körper strömen. Als sie einen Blick auf den elektrischen Rollstuhl des Jungen wirft, sieht sie, dass der Sitz voller Krümel ist, den Resten der Gebäckstücke und Kekse, die er den lieben, langen Tag mümmelt. Sein allgegenwärtiger Laptop ist aufgeklappt, als Bildschirmschoner dient das Gesicht von Jesus. Der Glaube an Jesus ist das Einzige, was sie ihm hat schenken können … Ihre flache Hand fährt an seiner krummen, buckligen Wirbelsäule auf und ab; sie spürt die regelrecht prähistorischen Hebungen und Senkungen. Sie kennt den Körper dieses Jungen so gut wie ihren eigenen.
»Bernard?«, flüstert sie.
»Ach, Mama, Mama«, wimmert der Junge. »Krank, ich bin krank.«
»Schhh. Mama weiß schon. Mama ist bei dir.«
Die winzige Wohnung in der West One Hundredth Street ist dunkel; durch ihre wenigen kleinen Fenster blickt man in die Dunkelheit des Luftschachts in der Mitte des Gebäudes, auf dessen Boden, vierzehn Stockwerke tiefer, ein geheimnisvoller Haufen aus zerbrochenen Flaschen, Suppendosen und ausrangierten Glühbirnen liegt. So deprimierend die dichten, düsteren Schatten der Wohnung selbst auch scheinen mögen, für Amélie und Bernard sind sie eine Art Segen, da sie die visuelle Wirkung von Bernards zahllosen Missbildungen mildern und darüber hinaus das in den Räumen herrschende Chaos verbergen.
Es gibt keinerlei Beweise dafür, dass Bernard geboren wurde. Der einzige Beleg für seine Existenz ist der Bericht des Krankenhauses über seine Totgeburt. Amélie hat ihn in völliger Heimlichkeit aufgezogen. Der einzige Kontakt, den sie ihm erlaubt, sind die wilden Kinder, die in den Parks der Stadt leben, und die virtuelle Welt, in der er auf seinem Computer lebt. Aus diesem Grund hat sie sich ganz allein um all seine zahlreichen und oft dringlichen medizinischen Bedürfnisse gekümmert, und wenn die Wohnung je vollständig erleuchtet wäre, so würde sie wie ein Sanitätsartikellager aussehen, gefüllt mit Verbandsmull, Spritzen, Salben, Badestühlen, Toilettenhilfen, Blasenkathetern, jeder erdenklichen Sorte Kissen und Pillen aller Art: Antibiotika, Mineralien, Vitamine, Beruhigungsmittel,
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