Breed: Roman (German Edition)
»Jemand hat ein Portemonnaie gefunden, das einem gewissen Xavier … Rivera oder so ähnlich gehört. Er ist nicht auffindbar, aber im Portemonnaie war eine Karte mit dem Hinweis, im Notfall solle man Sie kontaktieren.«
»Wo hat man das Portemonnaie gefunden?«, fragt Michael.
»Jemand hat es auf die Polizeiwache gebracht. Keine Sorge, bestimmt hat der gute Samariter alles Geld eingesteckt – falls welches drin war. Gefunden wurde es in einem Rinnstein irgendwo in der Twenty-Third Street.«
Michael hat das Gefühl, als würde sein Herz durchbohrt.
Rodolfo hat sein Versprechen gehalten und Alice an einen Ort gebracht, wo sie etwas zu essen bekommt, sich wärmen und schlafen kann. Es ist eine große Wohnung in der West End Avenue, in einem Gebäude, das früher einmal ziemlich nobel war, seine guten Tage aber schon hinter sich hat. Nun gibt es keinen Portier mehr, und den Aufzug muss man selbst bedienen. Die Wohnung, die sich auf der neunten Etage befindet, ist unverschlossen und ungepflegt. Rodolfo wärmt für Alice eine Dosensuppe auf, wirft ihr eine Packung Milch hin und röstet ein paar Scheiben Toast – die er allerdings so unbeholfen mit Butter bestreicht, dass sie in Stücke zerfallen. Sobald sie gegessen hat, wird sie von Müdigkeit übermannt, und mit einem Mal sind neun Stunden vergangen wie eine nur am Rand des Blickfelds sichtbare Sternschnuppe, und Alice wacht auf einem weichen grünen Sofa auf, dessen Polster einen scharfen, aber tröstlichen Tiergeruch verströmt. Offenbar ist das der Lieblingsplatz des Familienhundes.
»Hallo?«, ruft sie zaghaft, setzt sich auf und reibt sich mit den Handballen die Augen. Als ihre Füße den Boden berühren, landen sie direkt auf Rodolfos Schulter – er hat sich vor das Sofa gelegt und auf dem Boden geschlafen.
Auf ihre Berührung reagiert er rasch; in weniger als einer Sekunde hat er sich aufgesetzt und hockt vor ihr. Sein Blick ist scharf und argwöhnisch. Als er Alice sieht, entspannt er sich und lächelt. »Bist du hungrig?«, fragt er.
Alice schüttelte den Kopf. »Ich weiß gar nicht mehr, wo wir sind«, sagt sie.
»Wir sind in der Bude von Peter Burns.«
»Wer ist das denn?« Im Nebenraum hört Alice Stimmen, Gelächter, hastige Schritte.
»Ein Freund. Ein Kind. Keine Angst, der ist cool.«
»Das ist die Wohnung von einem
Kind
?«
Rodolfo zuckt die Achseln. »Sozusagen.«
Ein etwa sieben Jahre alter Junge kommt ins Zimmer gerannt. Er sieht aufgeregt und verängstigt aus. »He, Rodolfo, du musst kommen. Luke und Dave fangen an zu kämpfen.«
»Lass sie«, sagt Rodolfo und winkt ab.
»Aber das letzte Mal …«
»Ist schon okay. Lass es einfach laufen.«
Der Junge schüttelt den Kopf, gehorsam, aber unzufrieden. Einen Moment später hört man aus dem Nebenzimmer ein scheußliches Jaulen, gefolgt von einem tiefen, grollenden Knurren, bei dem Alice das Gefühl hat, als käme es direkt unter ihren Füßen hervor. Sie presst sich die Hände auf die Ohren, wie sie es tut, wenn die U-Bahn in die Station donnert.
»Komm«, sagt Rodolfo und nimmt sie bei der Hand. »Ich zeige dir die Wohnung. Du kannst immer hierherkommen, wenn du willst. Sie gehört uns.«
Während Alice sich von Rodolfo durch das große, weitgehend unmöblierte Wohnzimmer führen lässt, dessen Fenster von Bettlaken verhüllt sind und wo keine Bilder an den Wänden hängen, bemerkt sie zwei andere Sofas, die man in die Ecken geschoben hat. Auf einem schläft jemand, aber so eng zusammengerollt, dass Alice nicht erkennen kann, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt, und auf dem anderen sitzen zwei Jugendliche: ein Junge, dahinter ein Mädchen, das ihm kraftvoll das lange rostrote Haar bürstet. Rodolfo öffnet eine Tür, und gerade als er sie in einen langen, schwach von Wandleuchtern mit flackernden, flammenförmigen Birnen erleuchteten Flur führen will, kommt der kleine Junge wieder hereingerannt, diesmal noch aufgeregter als vorher.
»Rodolfo! Bitte. Du musst helfen. Sonst bringt er ihn um!«
Rodolfo stößt einen Seufzer aus und hebt besänftigend den Finger. »Die Küche ist ganz am Ende von dem Flur hier«, sagt er zu Alice. »Wenn es was zu essen …« Er schüttelt den Kopf. »Ich meine, da
gibt es
was zu essen.«
Er schlendert mit dem Jungen lässig in die andere Richtung, während Alice den düsteren Flur entlanggeht, an einer Reihe geschlossener Türen vorbei. Von manchen blättert die Farbe ab, andere haben tiefe Kratzer im Holz. Wahrscheinlich
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