Breed: Roman (German Edition)
ihm geglaubt«, sagt Twisden, als gäbe es nichts Unwahrscheinlicheres oder Absurderes.
»Ja, das habe ich getan.«
Alex und Leslie wechseln einen raschen Blick.
»Und was für Märchen hat Ihnen unser Sohn noch aufgetischt?«, fragt Alex, diesmal mit etwas weniger Gepolter in der Stimme.
»Mr. Medoff«, sagt Fleming zu Michael. »Das verstößt in höchstem Maße gegen die Regeln.«
»Wenn Sie ihn auch nur angefasst haben!«, sagt Twisden, schüttelt den Kopf und zieht eine Grimasse, als würde ihm bei der Vorstellung der Strafe, die er zu vollstrecken gezwungen wäre, übel.
Augen wie die von Twisden hat Michael noch nie gesehen. Sie sind unglaublich intensiv, drücken jedoch nicht mehr Gefühle aus als Halogenstrahler.
»Und wo ist er jetzt?«, fragt Leslie Kramer. »Was haben Sie mit ihm gemacht? Und warum zum
Teufel
haben Sie uns nicht angerufen, als er in Ihre Wohnung zurückgekehrt ist?« Der Zerstäuber des Parfüms, das sie trägt, ist offenbar öfter betätigt worden als gewöhnlich; der Lippenstift scheint mit zitternder Hand aufgetragen zu sein.
»Es war … es war eine merkwürdige Situation«, sagt Michael. »Ich dachte, Adam wäre wieder weggelaufen, und als ich gemerkt habe, dass dem nicht so war – tja, er hat so gebettelt. Vorhin habe ich versucht, ihn zur Schule zu bringen, aber er ist weggerannt. Er hat große Angst – vor Ihnen beiden. Und wegen gewisser Dinge, die er zu mir gesagt hat, bin ich verpflichtet, eine offizielle Meldung ans Jugendamt zu machen.« Michaels Herz schlägt so heftig, dass es bestimmt alle im Raum hören können.
»Er ist Ihnen weggerannt?«, fragt Twisden, als wäre das an und für sich schon ein Beweis, dass Michael sich strafbar gemacht hat.
»Ja«, sagt Michael, »genauso, wie er Ihnen weggerannt ist. Genauso, wie er sich in meiner Wohnung
versteckt
hat, als er wusste, dass Sie ihn holen kommen. Genauso, wie er sich davor stundenlang im Park versteckt hat. Es geht hier um einen Jungen, der durchgefroren, durchnässt und zu Tode erschrocken zu mir gekommen ist, und eines will ich Ihnen sagen – das will ich Ihnen und Ihnen und auch Ihnen sagen,
Mr.
Fleming, ich war es nicht, der ihm solche Angst eingejagt hat. Ich war derjenige, bei dem er Schutz gesucht hat. Und ich glaube, er ist mir auf unserem Weg zur Schule weggerannt, weil er wusste, dass seine Eltern hier nach ihm …«
Mehr kann Michael nicht sagen, weil Twisden sich auf ihn gestürzt hat. Die Hände des tobenden Anwalts stoßen gegen Michaels Brust, er stolpert und stürzt rücklings zu Boden, und die Einrichtung in Flemings Büro verschwindet so schnell im Dunkel wie die Waggons eines Zugs, der in einen langen Tunnel rast. Dann ist er selbst in diesem Tunnel, und statt des tiefen, tröstlichen Tutens einer Lokomotive hört er seine eigene Stimme, heiser und gequält, verängstigt und schwankend, und als die Dunkelheit nachlässt, blickt er auf die eingebauten Deckenleuchten im Sanitätszimmer der Schule. Über ihm schweben das weiche, mondförmige, irgendwie nonnenhafte Gesicht von Jeanette Cavanaugh, der Schulkrankenschwester, sowie das besorgte, schuldbewusste Gesicht von Davis Fleming, der nicht nur die Stirn in Falten gelegt hat, sondern auch die Hände ringt.
»Hallo, Michael, hallo«, sagt Fleming, als Michael die Augen öffnet. »Menschenskind! Da haben Sie sich aber mächtig die Birne angeschlagen.« Offenbar hat er sich auf die Strategie verlegt, den Angriff eines völlig durchgeknallten Vaters auf einen seiner Lehrer als eine Art tolles, gemeinsam erlebtes Abenteuer zu behandeln.
»Nicht bewegen, jedenfalls noch nicht, und dann nicht zu rasch«, sagt Jeanette Cavanaugh.
»Wie bin ich hierhergelangt?«
»Ich habe Sie getragen«, sagt sie.
»Und ich habe versucht, ihr zu helfen, aber das hat sie nicht zugelassen«, fügt Fleming hastig an. »Das ist eine ausgesprochen starke Frau.«
»Wo sind die beiden?«, fragt Michael, hebt den Kopf und stützt sich auf die Ellbogen. Der Schmerz scheint hauptsächlich in seinem Nacken und im oberen Drittel seiner Wirbelsäule lokalisiert zu sein, ein drehender, kalter Schmerz von der Art, bei der man sich fragt, ob man zuerst stöhnen oder kotzen wird.
Jeanette reicht ihm eine hellblaue Kältekompresse, deren Außenseite mit weißem Reif überzogen ist. »Ich werde Ihnen jetzt was für Ihre Schmerzen geben«, sagt sie.
»Was gibt’s denn zur Auswahl?«, erkundigt sich Michael.
»Das Stärkste, was wir haben, ist extrastarkes
Weitere Kostenlose Bücher