Breed: Roman (German Edition)
denn tun?«, fragt Peter. Er hat sich den beiden immer weiter genähert, aber wenn sie sich auf ihn stürzen würden, dann würden die Ketten sie wenige Zentimeter vor der Stelle, an der Peter steht, aufhalten. Selbst als er flehentlich die Hände nach ihnen ausstreckt, lässt er die Arme angewinkelt, damit seine Finger nicht in Gefahr sind.
»Ich muss pinkeln«, ruft die Mutter plötzlich. »Geh weg!«
Der Vater nickt weise und weist Peter mit einer gebieterischen Geste aus dem Raum.
Alice sieht, dass Peters Schultern zittern. Ihr wird klar, dass er weint. Sie weiß nicht, warum, doch beim Anblick von Peters bebenden Schultern denkt sie an Adam. Peter wendet sich von seinen Eltern ab und geht auf Alice und Rodolfo zu, ohne seine Tränen zu verbergen, die ihm das Gesicht herabströmen.
»Ich bin nicht wie die«, murmelt er vor sich ihn. »Ich bin überhaupt nicht wie die.«
Als er im Flur die Tür schließt, fragt Alice ihn: »Kann ich dein Handy benutzen? Ich muss meinen Bruder anrufen.«
Michael sitzt in seiner Wohnung und beobachtet, wie das Licht über den Boden wandert, während die Morgensonne langsam ihre Reise über die Stadt macht. Er wartet und wartet und wartet darauf, dass das Telefon läutet, wartet auf irgendeine Nachricht von Xavier. Mehrmals ist er eingenickt; er hat sich Tee aufgebrüht; als er kurz auf die Toilette gegangen ist, hat er das schnurlose Telefon mitgenommen.
Die einzige Person, die in der Wohnung angerufen hat, war Xaviers Schwester. Während Michael traurig ist und sich niedergeschlagen und allein fühlt, ist Rosalie trotzig und aufgebracht. Sie ist wütend auf die Polizei, weil sie ihren Bruder nicht gefunden hat und auch nicht ernsthaft nach ihm sucht, wütend auf Xavier, weil er verschwunden ist, und, wie Michael spürt, auch auf ihn – aus unklaren Gründen, aber wahrscheinlich nicht zuletzt deshalb, weil sie es grundsätzlich missbilligt, dass zwei Männer als Partner zusammenleben, besonders wenn einer der beiden ihr kleiner Bruder ist.
Michael atmet tief durch, bedeckt seine Augen, massiert sich die Schläfen. Wie soll das Leben nur weitergehen?
Das Telefon läutet und schreckt ihn auf. Bestimmt ist das die Polizei. »Ja?«, sagt er kaum hörbar, selbst für sich selbst.
»Michael? Hier spricht Davis Fleming.«
»Hallo«, bringt Michael heraus. Er blickt auf seine Armbanduhr. Die Schule hat schon vor einer Stunde begonnen. Ach, scheiß drauf, scheiß auf alle und auf alles. Scheiße!
»Ich rufe an, um Ihnen dafür zu danken, dass Sie heute nicht gekommen sind«, sagt Fleming. »Dafür bin ich Ihnen dankbar, und die Schule ist es ebenfalls.«
»Was?«
»Das war wirklich rücksichtsvoll von Ihnen, und ich möchte Ihnen sagen, wie sehr ich es zu schätzen weiß. Es ist wirklich am besten, sich bedeckt zu halten, während wir überlegen, wie wir mit diesem ganzen Mist umgehen sollen.«
Michael hat einen Augenblick gebraucht, um den Zweck von Flemings Anruf zu begreifen, aber nun ist ihm klar: Fleming hat keine Ahnung, dass Michael mit etwas wesentlich Schlimmerem zu kämpfen hat als mit Flemings kleinlichen Sorgen um seine Schule und seinem homophoben Schwachsinn. Kochend vor Wut, umklammert er das Telefon. Er will Fleming anbrüllen, bringt jedoch kein Wort heraus. Dafür steigt ein Geräusch tief aus seinem Innern auf und dringt aus seinem offenen Mund, und er lässt es einfach kommen, lauter und lauter, während ihm das Blut ins Gesicht steigt und die Sehnen an seinem Hals sich in Stahl verwandeln.
»Ich hab’s nicht gewusst.«
»Ich auch nicht.«
»Ich hatte total Angst.«
»Wie ich.«
»Genau.«
»Das Handy.«
»Ja, das verdammte Handy.«
»Echt übel.«
»Aber ehrlich.«
»Diese Typen.«
»Weiß schon. Die sind strange.«
»Aber sie haben mir geholfen.«
»Meinst du.«
»Doch, haben sie.«
»Egal. Ich glaube bloß, wir sollten uns von jetzt an nicht mehr trennen.«
»Auf keinen Fall.«
»Ich meine, wie echte Zwillinge.«
»Das sind wir doch.«
»Eben. Wir bleiben zusammen. Okay?«
»Ich hab Hunger.«
»Igitt. Ich darf nicht mal an Essen denken. Fühl mal meine Hände an.«
»Warum?«
»Fühl sie einfach an.«
»Die sind kalt.«
»Eiskalt.«
»Was heißt das?«
»Keine Ahnung.«
»Bin ich menschlich?«
»Haha.«
»Das meine ich echt!«
»Natürlich bist du menschlich. Und ich bin’s auch.«
»Werden wir es immer sein?«
Schweigen.
»Was meinst du?«
»Das weiß ich nicht.«
Es ist ein unerwartet schöner Tag in
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