Breed: Roman (German Edition)
Stimme Gewicht haben könnte, dann wäre dies eine sehr fette Stimme, eine Stimme mit vollem Bauch.
Wortlos beraten die Zwillinge sich, dann wagen sie einen Blick auf den Balkon, um zu sehen, wer sie gerufen hat.
Was sie sehen, ist so grässlich und bizarr, dass beide wie gebannt stehenbleiben, trotz der Kälte und des Windes, der sie zu ergreifen, herumzuwirbeln und auf die Straße unten zu schleudern droht. Es ist nicht ein Erwachsener, es sind zwei. Beide sind ungeheuer fett und so eng in ihre Sessel gestopft, dass es nicht so aussieht, als könnten sie je wieder aufstehen. Über ihre Knie sind karierte Decken gebreitet, und wie sie so dasitzen, blicken sie über das Balkongeländer wie Passagiere eines Schiffs, das rund um den Südpol segelt. Die eine Gestalt scheint männlich zu sein und die andere weiblich, wenngleich eigentlich kein großer Unterschied zwischen ihnen besteht. Beide haben langes Haar, das verfilzt und verknotet ist. Beide tragen dreckige Mäntel, die an den Nähten aufgeplatzt sind – unter ihren Armen quillt seidig weißer Futterstoff hervor. Sie tragen Gummistiefel; der Boden des Balkons ist schlüpfrig von etwas Nassem. Zwischen ihnen steht ein riesiger leerer Pappkübel, dessen Aufdruck verrät, dass er gebratene Hähnchenteile enthalten hat.
»Ihr braucht keine Angst vor uns zu haben«, sagt die näher an der Tür sitzende Gestalt zu Adam und Alice. »Wir sind armlos.«
»Harmlos«, korrigiert die andere. Der Stimme nach zu urteilen, handelt es sich um den männlichen Teil des Paares. »Es gab eine Zeit, als wir jedem das Wässerchen reichen konnten.«
»Jau, jau«, sagt die Frau und fuchtelt träge mit der linken Hand in der kalten grauen Luft, während sie mit der rechten sinnlos in dem leeren Hähnchenkübel herumtastet.
Der Mann betrachtet Adam und Alice mit zusammengekniffenen Augen, dann legt er den Kopf schief. »Zwillinge. Stimmt’s?«
Alice und Adam nicken. Sie verspüren den Impuls wegzurennen – aber wohin?
»Erstaunlich, dass nicht mehr von uns gezwillingt haben«, fährt der Mann fort. »Aber soweit ich sagen kann, sind die meisten von euch kleinen Lumpenkerlen einzeln rausgekommen. Ich schätze, das ist gut so. Ist schwer genug, euch in Schach zu halten.«
»Das kann man wohl sagen«, pflichtet die Frau bei.
»Wisst ihr«, sagt der Mann seufzend und reibt sich den geschwollenen Bauch, »ich liebe meine Tochter, wir lieben sie beide. Welche Eltern tun das nicht? Aber würde ich noch mal erleben wollen, was wir alles durchgemacht haben?«
»Lass das«, sagt die Frau. »Hör auf, dir wie Donald Rumsfeld ständig selber Fragen zu stellen. Das halte ich nicht aus.«
»Tja, dann sind wir da mal eben nicht derselben Meinung, was?«, sagt der Mann und lässt sein eisiges Lächeln aufblitzen wie ein Messer. »Aber wenn wir uns schon gegenseitig Vorschläge machen, dann schlage ich dir vor, einfach an was anderes zu denken, während ich mit diesen Zwillingen spreche, die, wie ich glaube, noch nie hier gewesen sind. Hab ich nicht recht?« Er deutet auf Adam.
»Ich war noch nie hier«, sagt Adam.
»Ich auch nicht«, sagt Alice.
»Na dann, willkommen.« Mit eifrigem Wedeln winkt er die beiden näher.
Automatisch bewegt Alice sich auf ihn zu, doch Adam hält sie auf, indem er fest ihre Hand drückt, eine Geste, die dem Mann nicht entgeht. Er runzelt die Stirn.
»Ich nehme also an«, sagt der Mann, »dass eure Eltern Patienten des großen, wundertätigen und bahnbrechenden Dr. Kiš waren, der inzwischen wahrscheinlich das reichste Arschloch in ganz Slowenien ist.«
Adam und Alice haben keine Ahnung, wovon er spricht, weshalb sie schweigen.
»Hab ich nicht recht?«, bohrt der Mann weiter. »Seid ihr nicht Produkte von Dr. Kiš?« Er deutet auf Alice, da er erkannt hat, dass sie verletzlicher als Adam ist und seinem Druck daher mit größerer Wahrscheinlichkeit nachgeben wird.
»Keine Ahnung«, sagt Alice achselzuckend.
»Ach nein? Ihr habt nie gehört, wie eure Eltern von dem großen und allmächtigen Dr. Kiš gesprochen haben? Habt nie was von Ljubljana gehört? Auch keine kleinen, privaten Scherze über den Junkie, der als sein Assistent tätig ist?«
Die Kinder schweigen.
»Wieso antwortet ihr nicht?«, fragt die Frau, zieht endlich die Hand aus dem Pappeimer und leckt sich energisch die Finger.
»Bei uns zu Hause geht man nicht zum Doktor«, sagt Adam schließlich.
Chiquita kommt auf den Balkon. Sie schiebt einen Einkaufswagen vor sich her. Wie bei vielen
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