Breed: Roman (German Edition)
hier irgendjemanden besuche«, sagt Cynthia, doch der Briefträger ist schon an ihr vorbeigegangen, und sie ist nicht sicher, ob er sie gehört hat.
Zum sechsten Mal an diesem Morgen ruft sie Leslies Mobiltelefon an und wird abermals zur Mailbox umgeleitet.
Ich bin doch nicht von so weit her gekommen, um auf der Straße zu stehen
, denkt sie, und nachdem sie ihren Koffer ergriffen hat, steigt sie die fünf Treppenstufen zur Haustür hoch. Über allem liegt eine Atmosphäre des Verfalls. Auf dem Treppenabsatz ist Laub festgefroren, das niemand weggefegt hat. Die Glasscheiben neben der Tür sind von innen mit Papier beklebt worden, damit niemand hineinspähen kann, nicht einmal in den Flur. Aus dem Haus dringt ein Hauch von etwas Feuchtem und womöglich gar Verdorbenem. Als Cynthia läutet, wackelt der Klingelknopf in seiner Fassung, und als sie ihn wieder und wieder drückt und ihr Ohr an die Tür presst, hört sie nur das Pochen ihres eigenen Herzschlags. Bestimmt funktioniert die Klingel nicht, weshalb Cynthia klopft, zuerst leise, mit einem leichten Schlag ihrer Knöchel, und dann kräftig – aber dennoch geschieht nichts.
Oh! Cynthia erinnert sich an etwas, und das ist ihr Pech, denn es wäre besser, wenn sie es vergessen hätte – vor über zehn Jahren, als Cynthia oft nach New York gereist ist, um neue Waren für ihren Laden zu kaufen, und dabei das wunderschöne Heim ihrer Schwester als Stützpunkt genutzt hat, da haben Leslie und Alex ihr freundlicherweise Schlüssel zum Haus überlassen, damit sie nach Belieben kommen und gehen konnte und das Gefühl hatte, sich wirklich zu Hause zu fühlen. Ob sie wohl je diese Schlüssel weggeworfen hat?
Cynthia öffnet ihre Handtasche und zieht ihren Schlüsselbund heraus, einen angelaufenen silbernen Ring, an dem mindestens zwanzig Schlüssel befestigt sind: für ihr Auto, ihr Fahrradschloss, den Spind im Fitnesscenter, ihr Sommerhaus am Strand, die Wohnung ihrer Mutter, ihr eigenes Bankschließfach und das ihrer Mutter und vier Schlüssel für ihre eigene Wohnung. So richtig unterscheiden kann sie die Schlüssel nicht, aber der dritte, den sie an Leslies Tür ausprobiert, gleitet sauber hinein. Cynthia hält den Atem an, als das Schloss mit einem tiefen, hallenden Klicken aufgeht.
Sie drückt die Tür auf, obwohl etwas in ihrem Innern ihr sagt, sie solle das nicht tun – etwas Angstvolles, Weises und Beharrliches. Sie tritt ein und ruft nach ihrer Schwester, während sie mit äußerster Beklemmung ein Stück weit in den Flur geht.
»Leslie?«, sagt sie und tritt in den ersten Raum links, der früher einmal ein mit wunderhübschen alten Möbeln ausgestatteter Salon war, beherrscht vom strengen Blick verschiedener verstorbener Twisdens: Admiräle und Bankiers mit ihren Rüschenhemden, ihren geröteten Wangen, ihren gescheiten, habgierigen Augen. Nun wird der Raum nur noch zur Aufbewahrung von Dingen verwendet, für deren Aufbewahrung es keinerlei erkennbaren Grund zu geben scheint – Kartons mit übergroßen Plastikbeuteln, Haufen aus Laken und Handtüchern, zerbrochenes Essbesteck.
Cynthia spürt, dass sich etwas von hinten an sie herangeschlichen hat, und sie fährt herum, doch da ist niemand, nur der schwache Hauch ihres eigenen Atems in der kalten, wässrigen Luft.
Wie es so oft geschieht, schlägt Angst in Zorn um, und sie ist plötzlich wütend auf ihre Schwester, weil diese das lange Schweigen zwischen den beiden gebrochen hat. Und wo zum Henker ist sie überhaupt? Cynthia bleibt stehen, atmet durch, erinnert sich daran, dass sie unvernünftig reagiert. Leslie hat ja angerufen, weil sie in Panik darüber war, dass die Zwillinge ausgerissen sind. Und Leslie ist wahrscheinlich deshalb nicht hier, weil sie irgendwo in der Stadt nach den beiden sucht. Es ist egal, wie viele Leute das schon tun – keine Mutter wird zu Hause hocken und auf einen Anruf warten, wenn sie sich selbst auf die Suche begeben kann.
»Leslie!«, ruft Cynthia. Ihre Stimme hallt durch das Haus, die Treppen hinauf und hinunter. Sie tastet nach dem Lichtschalter. Die Deckenlampen verströmen schwaches, anämisches Licht.
»Alex?« Wieder wartet sie, und wieder hört sie nur ihre eigene Stimme, die durchs Haus hüpft wie der einsame Schrei eines Gespensts.
Cynthia geht über den Flur und hält sich diesmal rechts statt links. Sie betritt einen Raum, der einmal eine Bibliothek gewesen ist, das temperaturgeregelte Heim von Erstausgaben, meist in Leder gebunden, oft mehrere Hundert Jahre
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