Breed: Roman (German Edition)
solcher Wagen fehlt ein Vorderrad, und das Ding ist gefüllt mit Hühnerfleisch – gebraten und roh.
Die beiden aufgeblähten Erwachsenen verstummen. Ihre Augen weiten sich erwartungsvoll, als ihre Tochter die dreißig Pfund Geflügel auf sie zuschiebt.
»Ich liebe Hähnchen«, sagt der Vater. In seiner Stimme liegen Verlangen und Selbstironie.
»Das war schon immer so und wird so bleiben«, sagt die Mutter.
»Nicht so wie andere«, sagt der Vater, wie um sich zu verteidigen. »Die Lust auf lebendes Fleisch haben – oder auf Menschenfleisch.«
»Das war nie unser Ding«, stimmt die Mutter zu.
»Über Geschmack lässt sich nicht streiten«, sagt der Vater.
»Ich hätte nichts dagegen, an einem der kleinen Dinger da zu knabbern«, sagt die Mutter lachend und zeigt auf die Zwillinge.
Chiquita wirft Adam und Alice einen scharfen, fragenden Blick zu, bevor sie sich ihrer Aufgabe widmet, die darin besteht, die Beute dieses Tages zu ihren Eltern zu befördern, ohne ihnen zu nahe zu kommen.
»Müsst ihr eigentlich mal wieder abgespritzt werden?«, fragt sie, während sie ihren Eltern die Pappeimer, Schalen und Packungen mit Hähnchenteilen zuschiebt.
»Keine Eile, Schatz«, sagt ihr Vater.
»Komm her und gib mir einen Kuss«, sagt ihre Mutter.
»Da kannst du lange warten«, sagt Chiquita.
»Komm schon«, drängt ihre Mutter. »Gib mir ein bisschen Zucker.«
»Hör auf«, rät ihr Mann. »Du machst es nur noch schlimmer.«
»Ihr habt Glück, dass ich euch nicht beide umbringe«, sagt Chiquita ohne große Leidenschaft, so als würde sie einfach auf etwas hinweisen.
»Und wie nennst du das?«, fragt ihre Mutter und deutet auf ihren gigantischen Leib und den ihres Mannes.
»Niemand hat euch gezwungen zu essen«, sagt Chiquita. Als sie zurückweicht, tritt sie Alice auf den Fuß, dreht sich um und starrt das Mädchen wütend an.
»Du weißt, dass wir nicht anders können«, sagt die Mutter, nimmt eine rohe Hähnchenbrust in die Hand, schnuppert einen Moment daran und beißt dann gierig hinein.
»Ihr wart schon immer dick«, sagt Chiquita, dreht sich um und richtet den ausgestreckten Zeigefinger auf ihre Mutter.
»Das ist absolut unwahr und total unhöflich«, sagt ihr Vater. Er hat eines der gebratenen Teile gewählt, das er sich in den gewaltigen Schoß geworfen hat.
»Ihr hättet mich gefressen, wenn ihr gekonnt hättet.«
»Aber das haben wir nicht getan«, erinnert ihr Vater sie. »Frag deine kleinen Freunde da, frag sie, ob sie sich bei ihren Eltern sicher fühlen. Die Versuchung. Die schreckliche Versuchung!«
»Führe uns nicht in Versuchung«, intoniert die Mutter und versucht, die Hand zu heben.
»Nachts«, fährt der Vater fort, »vor allem nachts, wenn der Wille am schwächsten ist. So ein köstliches Ding direkt im Haus zu haben, schlafend, halb nackt. Wir haben dieser Versuchung widerstanden. Das schaffen die meisten nicht. Sie werden davon überwältigt, gelähmt, erniedrigt. Wir aber haben widerstanden. Du weißt gar nicht, wie viel Glück du hattest. Oh, wie viel schärfer als ein Schlangenzahn ist es, ein undankbares Kind zu haben!«
Als der Vater von Zähnen spricht, schürzt die Mutter in einem ungewollten Reflex die Lippen und zeigt Adam und Alice ihre eigenen Zähne, die stark verfärbt sind. In der Mitte haben sie eine normale Größe, aber auf den beiden Seiten sind sie riesig und scharf wie Dolche.
Früh am nächsten Morgen steht Cynthia, die am Flughafen ein Taxi genommen hat, vor dem Stadthaus ihrer Schwester und blickt zu dessen dunklen Fenstern hinauf. In jedem dieser Fenster spiegeln sich nackte Bäume, deren kahle Äste einen Inbegriff der Trostlosigkeit darstellen. Cynthia ist wütend auf sich, weil sie nicht die richtige Kleidung für das kalte New Yorker Wetter trägt; jeder Windstoß fühlt sich wie eine Bestrafung für ihre Haut an. Sie stellt ihren kleinen Koffer auf den Gehweg und bläst in ihre Hände, um sie zu wärmen. Ein Briefträger geht vorbei; er trägt eine Mütze mit Fellklappen, mit der er aussieht wie ein russischer Soldat. Er wirft einen Blick auf Cynthia, bleibt stehen und rückt seine Tasche von einer Schulter auf die andere.
»Sind Sie hier zu Besuch?«, fragt er Cynthia.
»Wieso fragen Sie?«
»Sie können denen sagen, dass ich nichts mehr einwerfe. Die Post stapelt sich bloß, das ist gefährlich. Wenn die also ihre Post wollen, können sie zum Amt gehen und sie da abholen. Sagen Sie denen das, okay?«
»Ich hab gar nicht gesagt, dass ich
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