Breed: Roman (German Edition)
alt. Die Regale aus dunklem Kirschholz sind noch vorhanden, doch jetzt sind sie leer, und aus dem Sitzpolster des alten Ledersessels daneben, auf dem man sich früher gemütlich niederlassen konnte, um zu lesen, ragt eine Sprungfeder. Die Arme des Sessels sind zerfetzt wie von Katzenkrallen. Es riecht auch nach Katzen. Er riecht nach Katzen, bestenfalls …
Ihr Herz schlägt immer heftiger. Sie spürt es in ihrer Kehle, ja sogar hinter ihren Augen. Da stimmt etwas nicht.
»Leslie!«, ruft sie und kann die Furcht in ihrer eigenen Stimme wahrnehmen. Sie stellt ihren Koffer ab, räuspert sich und ruft erneut, doch die Furcht ist immer noch da. Sie verflüchtigt sich einfach nicht. Sie wächst wie Sporen, wie Krebs, und schnürt ihr die Kehle zu. Cynthia senkt den Kopf, versucht, sich kräftiger zu räuspern, und fragt sich:
Muss ich jetzt wohl kotzen?
Nein, ihr wird nicht übel werden, jedenfalls noch nicht; sie wird schreien. Sie wird schreien, weil etwas sie von hinten berührt hat, etwas Kaltes und ein klein wenig Schleimiges, und es hat sie an der nackten Haut auf der Rückseite ihres Beins berührt, direkt über ihrer Stiefelkante. Als sie herumwirbelt, sieht sie eine Ratte, die von einer Seite des Zimmers zur anderen flitzt und Cynthia über die Schulter hinweg anschaut, während sie ihren Fluchtweg in den offenen Kamin fortsetzt. Als die Ratte in einem Spalt zwischen den Fliesen verschwindet, hört Cynthia einen Chor aus zwitschernden und piepsenden Tönen. Er stammt offenbar von einer ganzen Kolonie von Freunden und Verwandten, die das Tier in der Feuchtigkeit der Wand erwartet haben, wo die Nager ihr Parallelleben führen.
Cynthias Beine zittern, als würde die Furcht ihr ein Gewicht auferlegen, das mehr ist, als sie ertragen kann. Sie taumelt vorwärts und will sich am Kaminsims festhalten, doch das Geräusch der wuselnden Ratten lässt sie erstarren. Sie weicht zurück, ohne daran zu denken, dass sie ihren Koffer auf den Boden gestellt hat. Über den stolpert sie nun und muss hektisch mit den Armen wedeln, um nicht rücklings hinzufallen.
»Leslie!«, schreit sie, ebenso aus Wut wie aus Angst.
Doch die Wut hat eine abstumpfende Wirkung. Sie versengt das Entsetzen und löscht es an der Wurzel aus. Ehe Cynthia es sich versieht, steigt sie die enge Treppe zum ersten Stock hinauf, wo man sich damals, als sie regelmäßig zu Besuch gekommen ist, getroffen hat, um zu essen und zu plaudern. Wie glücklich da doch alle gewesen sind! Wie zufrieden, attraktiv, stilvoll und ideenreich! Das Klirren von Cocktailgläsern, das erotische Flüstern von Seide, immer der Duft frischer Rosen, auf deren dunkelroten Blütenblättern Tropfen perlten … Wieso nur, wieso nur, wieso waren Leslie und Alex nicht zufrieden mit dem, was sie hatten? Weshalb diese fixe Idee, ein Kind zu bekommen, die letztlich allen das Leben ruiniert hat, da ist Cynthia sich sicher. Wieso hat Leslie sich Alex’ manischer Gier, einen Erben zu bekommen, nur gefügt? Denn hinter diesem Projekt hat definitiv Alex gestanden mit seiner Eitelkeit und seinem trotzigen Konservativismus.
Unter Cynthias Gewicht ächzen die Treppenstufen. Sie bleibt stehen, wartet, lauscht. Diesmal ruft sie nicht den Namen ihrer Schwester, sondern geht weiter auf den ersten Stock des Hauses zu, wobei sie verstohlen einen Schritt nach dem anderen macht. Aber als sie die Hälfte der Treppe hinter sich hat, hält etwas sie auf. Ein Geräusch. Von unten. Was ist das? Gebell? Ein menschlicher Schrei? Sie dreht sich um. Wartet.
Adam und Alice wandern durch den Central Park in Richtung Upper East Side, ohne einen besseren Grund dafür zu haben als den Umstand, dass sie mit diesem Teil der Stadt minimal vertrauter sind. Es ist noch nicht einmal Mittag, hat jedoch den Anschein, als wäre über der Stadt schon der Abend angebrochen. Dunkle, schwere Wolken hängen bedrohlich über den trutzigen Spitzen der großen Wohnblocks auf beiden Seiten des Parks. Regen? Schnee?
Alice zittert, und Adam legt ihr den Arm um die Schultern, während sie die Köpfe einziehen und rasch gegen den Wind gehen. Der Schirm einer Frau in hochhackigen Stiefeln hat sich gerade umgeklappt, und nun dreht sie sich im Kreis, um ihn unter Kontrolle zu bekommen, als würde das kaputte schwarze Ding sich vor Schmerz über seinen Zustand gegen sie wehren.
»Alles in Ordnung?«, fragt Adam seine Schwester.
»Bei mir schon. Und bei dir?«
»Ich frag mich, wo wir hingehen.«
Alice lächelt, irgendwie kommt ihr
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