Breed: Roman (German Edition)
das lustig vor. »Das frag ich mich auch«, sagt sie.
Nach einigen Momenten Schweigen fährt sie fort: »Mom und Dad sind nicht so wie die beiden auf dem Balkon.«
»Das glaub ich auch.«
»Ich finde immer noch, dass sie nett sind«, sagt Alice.
»Ja«, sagt Adam, »meistens. Aber weißt du was?«
»Was denn?«
»Wir können nie wieder nach Hause.«
Plötzlich bleiben sie wie angewurzelt stehen. Sie sehen es beide – die dunkle, vom Wind zerzauste, irgendwie vertraute Silhouette eines Mannes, der nicht weiter als fünfzehn Meter von ihnen entfernt auf einer kleinen Anhöhe steht.
»Verdammte Scheiße«, flüstert Adam.
Alice kneift die Augen zusammen. Ihre Nasenlöcher weiten sich, als sie den Kopf nach vorn reckt.
»Er ist es nicht«, sagt sie.
Als der Mann vorüberjoggt, erkennen sie, dass er es tatsächlich nicht ist, und die beiden fassen sich an der Hand und rennen lachend los. Ihre Haare fliegen im kalten Wind, als sie wie schöne, wilde Geschöpfe durch den Park laufen.
Er ist es nicht! Er ist es nicht!
Sie sprechen nicht darüber, wenden sich jedoch schräg nach Norden, während sie weiter auf die Upper East Side zulaufen. Ihr Ziel ist ihre Schule, obwohl sie nicht recht wissen, warum. Keiner der beiden meint, dort wären sie in Sicherheit. Wenn ihre Eltern nicht schon genau in diesem Augenblick dort sitzen und auf sie warten, dann werden sie bestimmt irgendwann dort vorbeikommen. Oder jemand von der Schule wird sie anrufen. Meinen die beiden, Michael Medoff könnte ihnen irgendwie helfen? Eigentlich nicht. Sie haben überhaupt keine konkreten Vorstellungen. Sie frieren, sie sind müde, sie fühlen sich verängstigt und allein, und sie laufen auf ihre Schule zu, weil heute ein Schultag ist und sie dort hingehören. Am liebsten würden sie allerdings nach Hause gehen. Sie würden sich sogar gern in ihre Zimmer einsperren lassen. Sie wollen zu ihren Eltern – obwohl sie vor ihnen davonlaufen. Aber das alles ist vorbei, das alles ist unmöglich. Deshalb laufen sie auf die Schule zu, weil sie in diesem Augenblick einfach nicht wissen, wo sie sonst hinsollen.
All die vielen Male, die Cynthia in diesem Haus gewesen ist, hat sie nie den Keller aufgesucht – weshalb hätte sie das auch tun sollen? Dennoch steht sie nun davor. Eine Tür unterhalb des Treppenhauses. Sie legt das Ohr daran – Stille. Doch sie wartet, bis sie es hört. Ein tiefes, grollendes Knurren. Sie dreht an dem gravierten Messingknauf, aber der bewegt sich nicht. Auch als sie es erneut versucht, bleibt die Tür fest verschlossen.
Sie klopft an die alte, schwere Holzplatte. »Hallo?«
Und tatsächlich: Gebell ertönt, erschöpft und hoffnungslos, das Rufen von Tieren, die gebellt und gebellt haben und nun annehmen, dass niemand sie je hören und sich um sie kümmern wird, die aber dennoch bellen müssen.
Aber dann … da ist noch etwas anderes. Ein anderes Geräusch. Eine andere
Art
von Geräusch. Ein Geräusch innerhalb dieser Geräusche. Eine menschliche Stimme.
Immer entschlossener versucht sie, die Tür zu öffnen. Der Schlüssel … der Schlüssel … wo wäre wohl das logische Versteck dafür? Sie greift nach oben, so weit sie den Arm ausstrecken kann, und tastet am Kranzprofil des Türrahmens entlang. Der unsichtbare Staub fühlt sich wie Robbenhaut an. Und dann spürt sie die kalten Metallzähne eines großen, altmodischen Schlüssels.
Ohne es zu wollen, wischt sie den Schlüssel vom Rahmen. Er fällt klappernd zu Boden, schlittert über den nackten Holzboden und kommt irgendwo unter einem alten, vermutlich viktorianischen Tisch zu liegen, auf dem Leslie und Alex Hunderte von Postsendungen aufgestapelt haben, von Katalogen über Zeitschriften bis hin zu Stromrechnungen.
Die Hunde unten bellen voller Hoffnung wieder los. Aber wo ist der Schlüssel genau hingeraten? Es ist dunkel unter der Treppe, und selbst bei Tag kann man nicht viel sehen. Cynthia lässt sich auf Hände und Knie nieder, greift unter den Tisch und tastet blind nach dem Schlüssel. Sie fährt mit der Hand hin und her. Da unten hat sich eine Staubschicht angesammelt, so dick wie das Geflecht aus Kernen im Innern einer Zuckermelone. »Uuuuh«, sagt sie.
Der Haustür hat sie den Rücken zugewandt, weshalb sie nicht den Lichtkeil sieht, der auf sie fällt, lang und schmal wie ein Schwert. Sie hat nicht gehört, wie die Tür aufgegangen ist, und auch die Schritte hört sie nicht, die immer näher kommen. Sie hat keine Ahnung, dass sie nicht mehr allein
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