Breit - Mein Leben als Kiffer
arbeiten müssen, die nicht aus
reichem Hause stammen, sondern irgendwo auf
der Welt für einen Witzlohn schuften.
Mein Gehirn sucht nach Beweisen für die
Nichtexistenz von Armut, Krankheit, Gewalt und
Tod. Weil es aber keine greifbaren findet,
flüchtet es sich weiter in die Welt von
Spekulationen und steigt mit mir in eine der S-
Bahnen, die gerade einfährt. Zeit und Raum
spielen keine Rolle mehr für mich;
wahrscheinlich bin ich deshalb überzeugt, dass
mich jede S-Bahn nach Övelgönne bringen
kann.
- 259 -
Die Türen schließen sich automatisch, und ich
zucke zusammen, als sie zuknallen. Die
zerkratzten Fensterscheiben verstärken das
Gefühl der Beklemmung. In der S-Bahn sitzen
ein farbiges Pärchen und fünf dünne Araber.
Plötzlich die Gewissheit, dass ich noch lange mit
diesen Menschen hier sein muss. Als wären wir
gezwungen, gemeinsam ein Ziel, einen
kollektiven Bestimmungsort zu erreichen.
Ein beißender Geruch steigt mir in die Nase,
wie Gas oder Schwefel. Angst. Ich muss hier
raus, sonst wird mir etwas Schreckliches
passieren, das spüre ich. Ich beschließe, an der
nächsten Haltestelle auszusteigen. Einer der
Araber und auch das Pärchen schauen mich
entsetzt an, als wüssten sie, dass ich einfach
nur der spontanen Idee folge, beim nächsten
Halt auszusteigen. Ich lese den Stationsnamen:
Veddel, Rothenburgsort. Völlig orientierungslos,
aber überzeugt denke ich: Ach super, das ist ja
nicht weit weg von Övelgönne. Ich kann von
dort aus über die Elbe und bin dann bald bei
Silke. Was sie wohl sagen wird?
Am Ausgang der S-Bahn-Haltestelle sehe ich
ein Schild mit der Aufschrift «Hygienezentrum»,
was für mich absolut zu dem beißenden Geruch
passt. Das Wort erinnert mich an die
Grausamkeiten der Nazis im Dritten Reich. Ich
gehe über eine große Eisenbahnbrücke. Halb
bewusst denke ich an die Graffitigeschichten
aus den Rapsongs. Es kann gut sein, dass unter
- 260 -
mir, neben und auf den Bahngleisen dutzende
Mitglieder einer Jugendbande im Dunkeln
kauern und sich wie die Gefährten von Peter
Pan über Pfiffe verständigen. Schon lange von
zu Hause geflohen, ziehen sie nun durch die
Elbgebiete auf der Suche nach Leuten wie mir,
die sie beobachten, auf die Probe stellen und
danach entweder in die Gruppe aufnehmen
oder ausrauben können.
Es zieht mich nach unten auf die Bahngleise,
aber ich gehe aus Furcht und getrieben von
dem Wunsch, mein Ziel zu erreichen, weiter.
Am Ende der nächsten Straße sehe ich einen
Park. Ich umklammere mein rotes
Glasdidgeridoo, das ich auf meine Reise
mitgenommen habe, und schlendere langsam
weiter. Die beleuchteten Wohnungen in den
Häusern zu meiner Rechten sind für mich die
Wohnungen der Geister der Toten aus den
Konzentrationslagern. Vielleicht verbringen dort
die Opfer oder die Kinder der Opfer ihr Leben in
Verdauung des Schreckens. Vielleicht fristen
hier die Täter der nationalsozialistischen
Tötungsmaschinerie auch ihren Lebensabend.
Selten zuvor habe ich solche Angst
empfunden, denn von den Fenstern und den
dahinter vermuteten Menschen geht etwas
unglaublich Schwermütiges und gleichzeitig
Bedrohliches aus. Auf der Hälfte des Weges
kehre ich um, denn ich habe mit einem Mal
Angst, dass am Ende der Straße Schläger
- 261 -
lauern, die nur darauf warten, mich
umzubringen. Und gegen die ich sogar mit
meinem Glasdidgeridoo nichts würde ausrichten
können. Die Kühle der Nachtluft, die
normalerweise auf der Haut bleibt, dringt tief in
mein Herz und in meine Seele. Todesangst. Ich
muss zu Silke. Der nächste Weg nach links, wo
ich die Elbe vermute, führt mich durch ein
Labyrinth aus verschlungenen Pfaden, vorbei an
Schrebergärten, einem Dickicht aus Bäumen
und Sträuchern. Als ich an einem Sportplatz
vorbeikomme, glaube ich aus dem beleuchteten
Clubhaus Stimmen zu hören.
«Ja, jetzt weiß er auch nicht mehr weiter.»
«Doch, doch, er wird den Weg schon finden.»
«Er denkt, es kann nicht sein, dass wir ihn
von hier aus sehen.»
Vielleicht ist das hier ein militärisches
Testareal oder ein geheimes Forschungslabor.
Ich fürchte mich. Auch wenn ich irgendwo ganz
tief drinnen weiß, dass die Stimmen nur
Einbildung sind und ich keine Angst haben
muss. Aber ich kann nichts tun. Ich bin in zwei
Persönlichkeiten gespalten: Auf der einen Seite
bin ich vollkommen passiv, nehme die Dinge
nur noch wahr, ohne zu lenken und
einzugreifen, toleriere alles. Die andere
Weitere Kostenlose Bücher