Brenda Joyce
erkannte sogleich, dass es sich um
ein unbenutztes Gästezimmer handelte, dessen Möbel mit Laken abgedeckt waren.
Sie öffnete rasch die Tür zum Nebenraum, und als sie das große Himmelbett
erblickte, wusste sie, dass dies das gemeinsame Schlafzimmer der Stuarts war.
Sie zögerte und blickte sich um.
Neben einem
großen Wandschrank befand sich ein Kamin – in dem allerdings kein Feuer brannte
– mit einem großen, mit Quasten verzierten Sessel und einer Polstertruhe davor.
Rechts und links vom Bett standen kleine Nachtkommoden, am Fußende eine
gepolsterte Bank. In der einen hinteren Zimmerecke entdeckte Francesca einen
bunt bemalten, chinesischen Wandschirm, in der anderen einen Sekretär. Sie
vermutete, dass das zierliche Möbelstück von Lydia benutzt wurde.
Francesca
ging zum Kaminsims hinüber, auf dem lediglich zwei gerahmte Fotografien
standen, ein Hochzeitsfoto und das Porträt einer älteren Frau, von der
Francesca annahm, dass es sich um Lincolns verstorbene Mutter handelte.
Als
Francesca auf eine der Nachtkommoden neben dem Bett zutrat, entdeckte sie eine
goldene Halskette mit einem kleinen, zierlichen Kreuz als Anhänger. Es gehörte
offenbar Lydia, aber diese Tatsache machte sie natürlich noch nicht zur
Mörderin.
Francesca
öffnete die einzige Schublade der Kommode. Darin lag ein gefalteter
Papierbogen, den sie rasch herausnahm und auseinander faltete. Der Brief
stammte von Mary. Francesca fragte sich verblüfft, warum Lydia wohl eine
Nachricht von Mary erhalten haben sollte, doch als sie die Kerze näher an das
Papier hielt, stellte sie fest, dass der Brief an Lincoln Stuart gerichtet war.
Er lautete:
Sehr
geehrter Herr,
ich
muss Ihnen leider mitteilen, dass ich Ihre Einladung zum Essen nicht annehmen
kann, sosehr ich es auch genossen haben mag, Ihre Bekanntschaft zu machen. Die
Gründe verstehen sich von selbst. Wären Sie ein geeigneter Verehrer, würde ich
unsere Bekanntschaft nur allzu gern vertiefen.
Mit großem Bedauern,
Mary O'Shaunessy
Francesca ließ sich fassungslos auf das Bett sinken.
Lincoln
und Mary?
Lincoln Stuart hatte Mary
O'Shaunessy Avancen gemacht? Das würde allerdings erklären, warum er an der
Beerdigung teilgenommen hatte – wenn er überhaupt dort gewesen war. Vielleicht
hatte auch Lydia daran teilgenommen, um ihren Mann dabei zu erwischen, wie er
um eine andere Frau trauerte. Francescas Gedanken überschlugen sich. Bedeutete
dieser Brief, dass Lincoln Mary getötet hatte?
Nein, das
konnte man gewiss nicht sagen – auch wenn es jetzt nicht mehr abwegig war, da
Mary Lincoln ja abgewiesen hatte. Francesca ahnte, dass Mary Lincoln gemocht
und dass lediglich ihre große Tugendhaftigkeit sie davon abgehalten hatte, sich
mit ihm einzulassen.
In der
Stadt lief ein Mörder frei herum, der zwei junge Frauen, die enge Freundinnen
gewesen waren, auf grauenhafte Weise ermordet hatte, und zwei weitere
Freundinnen verblieben als potenzielle Opfer – falls Lizzie überhaupt noch am
Leben war.
Plötzlich hörte Francesca, wie
unten im Haus eine Tür ins Schloss fiel, und sprang erschrocken auf.
Sie sagte sich, dass gewiss
Bragg die Tür zur Bibliothek geschlossen hatte – aber andererseits hatte es
geklungen, als sei es die Haustür gewesen.
Francesca
faltete den Brief zusammen und steckte ihn in ihr Mieder. Dann eilte sie zur
anderen Seite des Bettes und zog dort die Schublade des Nachttisches auf, in
der sie etwas Kleingeld, einige Quittungen und eine kleine Bibel erblickte. War
Lincoln etwa ein religiöser Mann? Sie war sich sicher, dass dies seine Seite
des Bettes war.
Als
Francesca plötzlich Schritte auf der Treppe hörte, erstarrte sie und spitzte
die Ohren. Und wenn es gar nicht Bragg war, der die Treppe hinaufkam?
In diesem
Moment betrat ein Mann das Zimmer, und Francesca hätte vor Schreck beinahe
laut aufgeschrien. Es war Bragg, der sogleich auf sie zugeeilt kam und die Kerze
zwischen den Fingerspitzen ausdrückte. »Sie sind gerade zurückgekommen«,
flüsterte er. »Ich habe unten ein Gedicht gefunden. Harmlos eigentlich,
obgleich darin die Rede von 'Gottes Meisterplan' ist. Es wurde in der
Handschrift eines Mannes geschrieben. Offenbar hält sich Lincoln Stuart für
einen Dichter.«
»Er hat
Mary nachgestellt, Bragg«, erwiderte Francesca ebenfalls flüsternd. »Und Lydia
wusste davon, denn sie ist im Besitz eines Briefes, den Mary an ihn geschrieben
hat. Könnte es sein, dass die beiden Morde gar nichts miteinander zu tun haben?
Vielleicht hat sie
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