Brenda Joyce
gegessen. Ich habe Dr. Byrnes rufen lassen.«
»Ach du meine Güte!«, sagte
Francesca. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass es so ernst ist.«
»Doch, das ist es.« Die
Droschke näherte sich. Sie wurde von einem kastanienbraunen Pferd gezogen,
dessen Hufe über das vereiste Kopfsteinpflaster klapperten. »Es gibt noch ein
Gedicht, Francesca«, sagte Bragg.
»Wie bitte?«, entfuhr es ihr,
und dann verlor sie das Gleichgewicht, denn seine Worte hatten sie derart
überrascht, dass sie auf einer vereisten Pfütze ausgerutscht war. Sie konnte
sich gerade noch an ihm festhalten, um nicht hinzufallen.
Er half ihr
beim Aufrichten, und im nächsten Moment hielt auch schon die Droschke am
Randstein. »Wir haben ein Gedicht in Mary O'Shaunessys
Zimmer bei den Jansons gefunden.«
Einen Herzschlag lang vermochte
Francesca ihn nur anzustarren. »0 mein Gott! Wie lautete es?«
Er warf ihr einen ernsten Blick
zu und sagte: »Ein Seufzen, ein Flüstern, Schwindelei. Zwei Mädchen für immer
Abschied nehmen dabei.«
SONNTAG, 10. FEBRUAR 1902 – MITTAG
Damit sie an dem Begräbnis von Mary O'Shaunessy teilnehmen
konnte, musste Francesca eines ihrer nachmittäglichen Seminare ausfallen
lassen. Es war unmöglich, von St. Mary's in der Stadtmitte, wo der Trauergottesdienst
abgehalten wurde, rechtzeitig zum College zu gelangen. Während sie in der
eilends herbeigerufenen Mietdroschke quer durch die Stadt fuhr, kam Francesca
die ernüchternde Erkenntnis, dass sie inzwischen in all ihren Fächern
hoffnungslos hinterherhinkte und sich wohl für das laufende Semester würde
beurlauben lassen müssen. Andernfalls würde sie ihre Karriere als Kriminalistin
beenden müssen, um nicht durchzufallen.
Aber
andererseits hatte das Semester gerade erst begonnen, und obgleich sich Francesca
noch nicht lange als Kriminalistin betätigte, hatten sie ihre Erfahrungen bei
der Burton-Entführung und dem Mordfall Randall doch gelehrt, dass Fälle auch
rasch aufgeklärt werden konnten. Man benötigte nur eine einzige heiße Spur.
Vielleicht würde es ihnen ja gelingen, den Wahnsinnigen, der hinter den
Kreuzmorden steckte, schon bald dingfest zu machen, und dann konnte sie sich
darauf konzentrieren, ihre Noten aufzubessern.
Vorausgesetzt, es käme ihr
nicht wieder ein anderer Fall in die Quere.
Als Francescas Droschke vor der grauen Steinkirche auf der
East 16th Street hielt, ging ihr durch den Kopf, dass es ihr eigenes Mädchen,
Bessie, gewesen war, das den Briefumschlag mit dem Gedicht darin auf dem
Tablett in der Eingangshalle gefunden hatte, auf dem Besucher normalerweise
ihre Visitenkarten ablegten. Wer auch immer ihn dort zurückgelassen hatte –
und Francesca ging davon aus, dass es sich dabei um den Mörder handelte –, war
also einfach ins Haus hineinspaziert, und diese Dreistigkeit jagte ihr Angst
ein.
Zwei Männer
in groben Wollmänteln und schwarzen Wollmützen betraten gerade die St. Mary's
Chapel. Francesca bezahlte ihren Kutscher und stieg aus.
Sie betrat
die Kirche, in der die Messe bereits begonnen hatte, und suchte sich einen
Platz in der letzten Reihe. Ihr Blick wanderte über die wenigen Trauergäste
hinweg. Sie konnte Mike O'Donnell nirgendwo entdecken, aber vielleicht war er
bereits am Abend zuvor aufgegriffen worden und befand sich nun in
Polizeigewahrsam. Bragg saß mit Peter und den beiden Mädchen in der ersten
Reihe. Im ersten Moment war Francesca überrascht, die Kinder dort zu sehen,
doch dann fiel ihr ein, dass es nur natürlich war, dass sie am Begräbnis ihrer
Mutter teilnahmen. Es war so viel auf einmal passiert, dass Francesca darüber
gar nicht nachgedacht hatte. Selbst aus der Entfernung konnte sie erkennen,
dass die kleine Katie stocksteif dasaß. Ob sie wohl weinte? Ob sie seit dem Tod
ihrer Mutter überhaupt ein einziges Mal geweint hatte? Francesca tat es in
der Seele weh, die beiden Mädchen so zu sehen, und eine tiefe Traurigkeit
überkam sie.
Die Jadvics waren ebenfalls
anwesend. Mrs Jadvic und ihre ältliche Mutter saßen zusammen mit einem Mann –
von dem Francesca annahm, dass es sich dabei um Mrs Jadvics Ehemann handelte –
in der zweiten Reihe.
Francesca
erblickte einige junge Frauen in den mittleren Reihen, bei denen es sich wohl
um Marys Freundinnen und Arbeitskolleginnen handelte. Ihre Augen verengten sich
misstrauisch, als sie einen schwarz gekleideten Mann mit weißem Haarschopf
entdeckte. War das etwa Vater O'Connor? Ja, tatsächlich, er schien es zu sein.
Aber was hatte er hier verloren? Er
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