Brenda Joyce
selbst, und man hatte ihm dieses Amt
übertragen, damit er sich der unangenehmen Aufgabe widmete, den korrupten
Polizeiapparat der Stadt zu reformieren – ein Problem, das man immer mal
wieder mehr oder weniger halbherzig in Angriff genommen hatte, je
nachdem, welche Partei gerade an der Macht war. Sie ließen Braggs Backsteinhaus
hinter sich. Die Kutsche rumpelte nun den Broadway hinunter, wo sie eine leere
elektrische Straßenbahn überholte. »Die Polizei hat recht. In dieser Stadt
verschwinden jeden Tag Menschen. Auch Kinder«, sagte Hart.
»Ich
weiß.«
»Drei Tage sind eine lange Zeit. Mach dir keine allzu großen
Hoffnungen, Francesca.«
»Ich bin nicht diejenige, um die du dir Sorgen machen solltest.
Es geht um Emily – und um ihre Familie.«
»Ich werde mich immer um dich sorgen, auch wenn du sehr wohl auf
dich selbst aufpassen kannst.«
Bei diesen Worten schlug ihr Herz schneller, doch sie ließ sich
ihre Freude darüber nicht anmerken. »Ich glaube, die meisten vermissten Kinder
sind Ausreißer.«
»Da stimme
ich dir zu.«
Mit einem Blick aus dem Kutschenfenster stellte sie fest, dass sie
beinahe die Fourteenth Street erreicht hatten. Drei Hansoms warteten an der
Kreuzung, und Raoul, Harts Kutscher, verlangsamte die Fahrt. Francesca wandte
sich an Joel. »Wie alt ist Emily, Joel?«
»Dreizehn. Sie hatte letzte Woche Geburtstag«, antwortete der
junge prompt.
»Hat sie
die Schule besucht?«
Joel warf ihr einen ungläubigen Blick zu. »Nein. Sie arbeitet mit
meiner Mom und Mrs O'Hare als Näherin bei Moe Levy.«
»Ist sie ein glückliches
Kind?«, erkundigte sich Francesca weiter. Trotz der Bildungsgesetze war es
nichts Ungewöhnliches, dass ein Kind in diesem Alter bereits arbeitete. Und in
der Kleiderfabrik von Moe Levy herrschten eigentlich erträgliche
Arbeitsbedingungen – die Näherinnen saßen in einem großen Raum, der zwar nicht
gerade luftig, aber auch nicht stickig war. Francesca war vor einigen Monaten
einmal selbst dort gewesen und hatte sich die Räumlichkeiten angesehen.
»Ich glaube schon«, erwiderte Joel und runzelte die Stirn.
»Wieso
fragen Sie das, Miss Cahill?«
»Könnte es sein, dass sie von zu Hause fortgelaufen ist?« Er sah
sie erschrocken an. »Nein, auf keinen Fall. Sie hat sich zwar hin und wieder
mit ihrer Mom gestritten, aber warum sollte sie weglaufen? Wohin sollte sie
denn gehen?« Francesca hatte keine Ahnung. Hart jedoch sagte kühl: »Ist sie
hübsch, Joel?«
Francesca fuhr zu ihm herum und starrte ihn mit offenem Mund an.
Joel nickte. »Sehr hübsch. Sie hat ganz helle Haut und langes,
lockiges schwarzes Haar und blaue Augen – wie Miss Cahill.«
Francesca fragte sich entgeistert, welche schrecklichen Gedanken
Hart wohl verfolgen mochte, doch sie wollte in Joels Beisein nicht darüber
reden. »Gibt es vielleicht einen jungen Gentleman, den sie besonders gern
hat?«, erkundigte sich Hart weiter.
Francesca wurde bang ums Herz, und sie wartete angespannt auf
Joels Antwort.
»Keine Ahnung«, sagte der und
wurde rot. »Die Männer ham sie immer angesehen, wenn sie über die Straße ging,
Mr Hart. Und die von der üblen Sorte haben ihr schmutzige Sachen angeboten,
wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Allerdings«, sagte Hart leise.
»Wir sind beinahe da!«, rief Francesca, entschlossen, der
Unterredung ein Ende zu bereiten.
»Sie glauben doch wohl nicht, dass sie mit irgendeinem Rüpel
durchgebrannt ist?«, fragte Joel mit scharfer Stimme.
»Nein, das glaube ich nicht«,
erwiderte Hart ruhig.
Francesca fragte sich, was er tatsächlich denken mochte. Sie
brannte darauf, es zu erfahren, hielt sich aber zurück, da sie den armen Joel
nicht noch mehr beunruhigen wollte. Der Junge hingegen, gewitzt wie er war,
fragte weiter: »Aber Sie glauben, dass sie auf 'nen feinen Dandy wie Sie
reingefallen is!«
Hart zuckte mit den Schultern. »Möglicherweise hat ihr ein Gentleman ein verlockendes Angebot gemacht.«
Joel errötete heftig. »Mr Hart, Sir! Ich hab das nicht respektlos
gemeint!«
»Ich weiß«, versetzte er und lächelte dem Jungen beruhigend zu.
»Calder! Worauf genau willst du hinaus?«,
verlangte Francesca zu wissen, die ihre Frage nicht länger zurückhalten
konnte.
Er richtete den Blick auf sie. »Es gibt da gewisse Leute, die auf
der Suche nach jungen, hübschen, unschuldigen Mädchen sind. Möglicherweise hat
man ihr Geld, Kleider oder eine Wohnung angeboten. Wenn sie wirklich so hübsch
ist, wäre das meine erste Vermutung für den Grund
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