Brenda Joyce
würde sie
sich später Gedanken machen.
Sie folgten Kennedy hinaus in den kühlen,
mondlosen Abend.
Kapitel 2
DONNERSTAG, 27. MÄRZ 1902 – 22:00 UHR
Harts Kutsche
war ein eleganter Landauer, der von sechs Rappen gezogen wurde und mit Samt und
Leder gepolstert war. Während die Kutsche zügig durch die dunklen Straßen der
Stadt rollte, begann Francesca Joel über Emily O'Hare auszufragen. »Weißt du
irgendetwas über ihr Verschwinden?«
Joel schüttelte den Kopf. Er saß in Fahrtrichtung neben Francesca.
Hart hatte auf der Sitzbank gegenüber Platz genommen, und zwar in einer
Haltung, die alles andere als förmlich war. Francesca bemühte sich, es nicht zu
beachten. »Ich weiß bloß, dass sie am Montag mit 'nem Nickel losgegangen is,
frisches Brot kaufen. Und dann is sie nicht mehr wiedergekommen.«
Joel hatte Francesca bereits die Adresse des
vermissten Kindes genannt. Die O'Hares wohnten auf der Avenue A, an der
Kreuzung zur Tenth Street – im selben Mietshaus wie er selbst und seine
Familie. Es war ein trostloses Viertel, in dem Kinderbanden neben gefährlichen,
kriminellen Elementen ihr Unwesen trieben. Aber dort lebten auch fleißige und
ehrliche Menschen wie Joels Mutter, Maggie Kennedy, die sich nach Kräften
bemühte, ihre Kinder zu rechtschaffenen Menschen zu erziehen. Francesca
seufzte. »Hat Mrs O'Hare irgendeine Vermutung, was geschehen sein könnte?«
»Glaub ich nicht. Aber ich wusste auch gar
nicht, was ich sie fragen sollte, solange sie weg waren,
Miss Cahill«, sagte Joel.
»Ist sie zur Polizei gegangen?«, mischte sich
Hart gelassen ein.
Joel nickte. »Die haben ihr aber bloß gesagt, dass in der Stadt
dauernd Leute verschwinden.«
Francesca kochte innerlich vor Wut. Gott sei
Dank, dass sie jetzt wieder da war. Sie gestattete sich nun doch einmal, zu
Hart hinüberzuschauen, dessen Gegenwart sie in einer Weise ablenkte, die ihr in
diesem Moment höchst ungelegen kam. Sie tauschten einen wissenden Blick. Hätte
die kleine Emily an der Fifth Avenue gewohnt, dann hätte man sich binnen
weniger Stunden um ihr Verschwinden gekümmert. Das wusste Francesca mit
Sicherheit, denn sie hatte schon einmal an einem Fall von Kindesentführung
mitgearbeitet. Sie schlug die Augen nieder, plötzlich überwältigt von der
Erinnerung an die vielen Gelegenheiten, bei denen sie so eng mit Bragg
zusammengearbeitet hatte. Sie waren mehr als nur ein hervorragendes
Ermittlergespann gewesen, viel mehr. Francesca verschränkte in einem Anflug von
Kummer die Arme vor der Brust. Es war schon seltsam, dass Hart jetzt bei ihr
war.
Sie starrte durch die Scheibe nach draußen,
sah die Gebäude vorbeigleiten. Der Winter zog sich langsam aus der Stadt
zurück. Als sie New York verlassen hatte, waren die Straßen noch mit
schmutzigem Eis bedeckt gewesen, und Schneematsch hatte auf den Bürgersteigen
gelegen. Nun sah sie im Schein der hohen, schmiedeeisernen Gaslaternen die
Bürgersteige frei von Schnee, und auf dem Kopfsteinpflaster der Straßen
standen nur vereinzelte Pfützen. Die Kutsche war von der Fifth Avenue
abgebogen und fuhr gerade am Madison Square
vorbei, wo Bragg ein hübsches Häuschen gemietet hatte. Ein Obdachloser hatte
sich auf einer eisernen Parkbank unter einem Kartoffelsack für die Nacht eingerichtet.
Francescas Blick glitt über den Platz hinweg zu Braggs viktorianischem
Backsteinhaus hinüber. Ein Fenster im oberen
Stockwerk war erleuchtet; wie sie wusste, gehörte es zum Schlafzimmer. Ob er
wohl gerade mit Leigh Anne schlief?
»Vielleicht solltest du in diesem Fall meinen Bruder hinzuziehen«,
unterbrach Hart ihre Gedanken.
Francesca fuhr herum und stellte fest, dass er sie beobachtete.
Er wusste, was ihren Blick angezogen hatte. Sie öffnete den Mund, um zu
erwidern, genau das habe sie gerade in Erwägung gezogen, doch es widerstrebte
ihr, ihn anzulügen, selbst wenn es sich um eine Notlüge handelte. »Er würde sicherlich
einen seiner Männer dafür abstellen.«
»Gewiss würde er das«, stimmte ihr Hart zu. »Denn er könnte dir
niemals etwas abschlagen.«
Sie rutschte
unbehaglich auf ihrem Sitz hin und her und rang sich ein Lächeln ab, das er
jedoch nicht erwiderte.
»Er könnte es niemals zulassen, dass ein Verbrechen
nicht verfolgt wird, Hart«, sagte sie leise.
Hart gab einen spöttischen Laut von sich.
»Natürlich nicht.«
Francesca wich seinem Blick aus. Eines war
Bragg unbestritten: ein Mann mit höchst ehrenwerten Absichten. Er war ein
überzeugter Reformist, genau wie sie
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