Brenda Joyce
Papieren und Akten überhäuft. In einer Ecke stand ein Telefon. Offensichtlich war Bragg ein eifriger
Leser und scheute sich nicht vor einer großen Arbeitslast. Der
Schreibtischstuhl hatte eine geflochtene Sitzfläche und war vom Tisch weggedreht, als habe Bragg zuletzt durch das
Fenster auf die Straße geschaut. Francesca stellte sich vor, wie er in Gedanken
versunken dort gesessen hatte.
Vor dem Schreibtisch standen zwei abgenutzte Stühle, deren Polster
wohl einmal von einem hübschen Grünton gewesen waren, nun aber braun und
fleckig wirkten. Auf dem Boden vor den Stühlen lag ein kleiner, zerschlissener
Teppich.
Francesca ließ ihren Blick weiter durch das Büro schweifen. An
einer Wand befand sich ein Kamin, auf dessen Sims zahlreiche Fotografien standen. Darüber hing eine Uhr.
Francesca schritt zum Kaminsims hinüber und nahm eine Fotografie
von Bragg und Seth Low in die Hand. Die Männer
standen auf den Stufen des Rathauses und schüttelten einander lächelnd die
Hand. Sie vermutete, dass das Foto am Neujahrstag aufgenommen worden war, jener
Tag, an dem Low sein Amt angetreten hatte und Bragg zum Commissioner ernannt
worden war.
Dann betrachtete sie nacheinander die anderen
Fotos. Bragg mit Carnegie, Bragg mit ihrem Vater und zwei
weiteren Herren, die sie nicht erkannte, Bragg mit Platt und Theodore
Roosevelt – zweifellos bevor er Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika
wurde. Francesca war beeindruckt. Es gab auch eine Fotografie, auf der Bragg
mit einem Dutzend anderer Herren auf der breiten Eingangstreppe des Union Club
stand, und eine weitere, die ihn mit einem älteren Mann zeigte, wie sie vor dem
Fifth Avenue Hotel standen. Auf dem letzten Foto hatte Bragg den Arm um die
Taille einer äußerst attraktiven Frau gelegt, und vor ihnen standen drei
lächelnde, hübsche Kinder, zwei Jungen und ein kleines Mädchen.
Ob das seine Familie war? Francesca verspürte einen eigenartigen
Stich in ihrem Herzen. Sie hatte angenommen, dass Bragg Junggeselle war, da sie
nichts über eine Ehefrau in den Zeitungen gelesen hatte, und am Abend zuvor war
er auch allein auf dem Ball gewesen. Während sie das Foto neugierig
betrachtete, erkannte sie, dass die Kinder Bragg mehr als nur ein wenig ähnlich
sahen.
Mit einem plötzlichen Gefühl der Beunruhigung stellte Francesca
das Foto zurück auf den Sims und ging zum Fenster hinüber. In Gedanken schalt
sie sich dafür, dass sie in den Privatangelegenheiten des Mannes
herumschnüffelte, die sie nun wirklich nichts angingen.
Auf den Gehsteigen der Mulberry Street lag
noch immer Schnee, der aber bereits schwarz vor Dreck und Mist war.
Francesca fiel auf, dass sich die Gegend nur wenig von der Mott
oder der Hester Street unterschied. Die Menschen auf der Straße wirkten wie
eine Horde von Rüpeln und Ganoven, Bettlern und Taschendieben. Wie konnten nur
derart viele Schurken ihren verbotenen
Geschäften direkt unter den Augen der Polizei nachgehen? Francesca beobachtete,
wie zwei Männer mit fliegenden Fäusten aufeinander losgingen. Einer der beiden landete schließlich direkt zu
Füßen zweier Streifenpolizisten in der Gosse. Die beiden blickten in eine
andere Richtung, ganz so, als hätten sie nichts bemerkt.
Als Francesca sich gerade vom Fenster abwenden wollte, sah sie
eine Frau, die vor einem Mann ihren Mantel öffnete und ihm ihren halb nackten Körper zeigte. Die Frau nahm etwas von
dem Mann entgegen – ein paar Geldscheine, wie Francesca vermutete – und führte
ihn dann über die Straße zu einem Haus. Francesca beobachtete mit großen Augen,
wie die beiden in einem im Erdgeschoss gelegenen Etablissement verschwanden.
Sie konnte sich vorstellen, was als Nächstes geschehen würde.
Dann kehrten ihre Gedanken zu Bragg zurück. Was wollte er wohl von
ihr? Wenn er doch nur ein bisschen Mitgefühl oder Freundlichkeit bekundet
hätte! Aber das hatte er nicht, im Gegenteil, er war überaus barsch und
abweisend.
Francesca ahnte, dass er von ihr eine Erklärung verlangen würde,
was sie dort an der Kreuzung zu suchen gehabt hatte. Was sollte sie ihm bloß
antworten? Welche Entschuldigung konnte sie ihm vortragen? Schließlich wusste
er ja, dass Francesca die anonyme Nachricht gelesen hatte.
Francesca schloss die Augen. Wenn sie doch nur selbst mit Joel
hätte reden können! Sie hätte alles dafür gegeben, dabei zu sein, wenn Bragg
den Jungen befragte. Bestimmt hatte es sich bei dem Zettel, den Joel Bragg
überbracht hatte, um eine Lösegeldforderung
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