Brenda Joyce
Grace seinen Arm. »Darf ich, meine Liebe? Ich glaube,
Sie sind heute Abend meine Tischdame.«
Grace lächelte, wobei sie trotz der Hornbrille, die ihr ständig
von der Nase zu rutschen drohte, überaus attraktiv wirkte. »Sie können sich gar
nicht vorstellen, wie sehr ich unsere politischen Diskussionen vermisst habe,
Andrew«, sagte sie leise. »Ich brenne darauf, zu erfahren, wie Sie über Ricks
Vorgehensweise in der Polizeibehörde denken – und über sein Zerwürfnis mit dem
Bürgermeister.«
Francesca horchte auf. Bragg war mit Low aneinander geraten? Wann
denn das? Und warum hatte er ihr nichts davon erzählt?
»Low kann es sich nicht leisten, sich die
Sympathien der Arbeiter zu verscherzen – auch wenn sich diese Wählergruppe
ohnehin fest in der Hand der Tammany-Maschinerie befindet. Er hat bezüglich
des sonntäglichen Ausschankverbots einen Rückzieher gemacht. Ihr Sohn hingegen
hält offenbar an seiner Überzeugung fest und gedenkt das Gesetz
buchstabengetreu durchzusetzen.«
O nein, dachte Francesca besorgt, ja geradezu angstvoll. Sie kannte
Bragg. Er war zum Polizeipräsidenten ernannt worden, weil man von ihm
erwartete, dass er die Behörde von Grund auf reformierte. Für ihn bedeutete
das, für die Einhaltung von Recht und Ordnung zu sorgen – und zwar ohne
Ausnahme. Und der sonntägliche Ausschank von Alkohol war nun einmal ein offener
Gesetzesverstoß. Low stand im Prinzip ebenfalls hinter diesen Gesetzen, war
jedoch anscheinend nicht bereit, dafür seine politische Zukunft aufs Spiel zu
setzen.
Hart beugte sich zu Francesca hinüber und flüsterte: »Ihr Ritter
in seiner schimmernden Rüstung wird es überleben.«
Francesca, die den Ärger in seinen dunklen Augen sehr wohl bemerkte,
würdigte ihn keiner Antwort.
Rathe hatte Julia am Arm gefasst, und während sich der Salon
allmählich leerte, ergriff Lucy Francescas Hand. »Ich muss mit Ihnen sprechen«,
flüsterte sie in angespanntem Ton. In ihren Augen stand schiere Angst.
Francesca begriff, dass etwas Schlimmes
geschehen sein musste. »Nach dem Essen wird die günstigste Gelegenheit sein«,
erwiderte sie leise, wobei ihr bewusst war, dass Hart dicht neben ihr stand
und Rourke sich schlendernd näherte. Sie wollte nicht, dass einer der beiden
ihre Unterredung mit anhörte.
Lucy fuhr herum. »Hart, Rourke, wartet in der Halle auf uns«,
befahl sie schroff.
Hart zog die Augenbrauen hoch. »Ich wäre möglicherweise geneigt,
diesem Wunsch Folge zu leisten, wenn er nicht in solchem Befehlston geäußert
würde«, versetzte er. Seine Augen wurden schmal. »Stimmt etwas nicht?«
»Es ist alles in Ordnung«, versicherte Lucy
allzu hastig.
Rourke starrte sie an. »Im Familienkreis führt sie sich noch
schlimmer auf als in Gesellschaft. Was ist los?«
Lucy lächelte auffallend gekünstelt. »Lasst uns einfach mit unserem
gemeinen Tratsch allein! Bitte!«, rief sie aus, hängte sich an den Arm ihres
Bruders und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Nun geht schon!«
Hart lächelte knapp, doch er betrachtete die beiden Frauen
nachdenklich. »Wenn ich dich und Francesca zusammen sehe, schaudert es mich.
Ich ahne, dass sich da eine gefährliche Verschwörung anbahnt, aus der nichts
Gutes entstehen kann.«
»Aber nein, es ist keinerlei Verschwörung im Gange!«, behauptete
Lucy mit verkrampftem Lächeln.
Francesca berührte Rourke am Arm und versicherte: »Wir kommen
sofort nach.«
Als er ihr in die Augen sah, verflog sein Ärger im Handumdrehen.
»Also schön. Francesca ...« Er zögerte.
Ihr Herz schlug schneller. »Ja?«
Er schüttelte den Kopf, als müsse er über sich selbst lachen. »Ich
hoffe sehr, dass Sie und Lucy nicht in irgendwelchen Schwierigkeiten stecken.«
»Selbstverständlich nicht!« Lucy schob ihn zur Tür. »Also dann,
bis gleich!«
Francesca konnte den Blick nicht von Harts dunklen, durchdringenden
Augen losreißen, bis er sich schließlich ebenfalls fügte und mit Rourke
hinausging. Lucy schlug hastig die Salontür hinter den beiden zu, ehe sie sich
an Francesca wandte. »Sie haben Recht. Ich habe gelogen. Ich stecke wirklich in
Schwierigkeiten, und ich weiß nicht, was ich tun soll!«
Francesca
fasste sie an beiden Armen. »Craddock?«
Einen Moment lang brachte Lucy kein Wort heraus. Dann zog sie
einen zerknitterten Zettel aus ihrem Mieder und reichte ihn Francesca.
Diese faltete ihn auseinander, strich das Papier glatt und las die
Botschaft, die in ungelenker Handschrift, wie von einem Kind, hingekrakelt
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