Brenda Joyce
betrachtete sie lange und nachdenklich. »Ich möchte nicht an
Ihrer Stelle sein«, sagte sie schließlich. Dann wurde sie merklich sanfter und
küsste Francesca auf die Wange. »Ich bin erschöpft. Heute Vormittag gab es eine
sehr lange Sitzung der republikanischen Damengesellschaft und heute Nachmittag
eine der amerikanischen Frauenrecht-Organisation. Ich hatte noch keinen
Augenblick Muße, mich zu setzen.« Sie wandte sich um. »Julia? Ich muss mich
leider für heute Abend zurückziehen, aber es war wirklich ganz reizend bei
Ihnen. Vielen Dank für die Einladung.«
Julia erhob sich und eilte auf sie zu. »Ich bin sehr froh, dass
Sie gekommen sind!«, rief sie aus, und die beiden Frauen entfernten sich, um
Rathe Bragg zu holen. Francesca und Lucy blieben allein zurück.
Diesmal war es Francesca, die
zur Salontür eilte, um sie zu schließen. »Lucy, was ist da im Gange? Erpresst
Craddock Sie etwa?«
»Ich weiß selbst nicht, was los
ist!«, stieß Lucy hervor. »Dies ist das erste Mal, dass er Geld fordert!« Sie
war weiß wie ein frisch gewaschenes Laken.
Francesca fasste ihre Hand. »Setzen wir uns doch erst einmal. Sie
müssen mir alles von Anfang an erzählen.«
»Von Anfang an?«, wiederholte Lucy, als verstünde sie nicht, was
damit gemeint war.
»Ja, ganz von vorn.« Francesca führte sie zum Sofa und nahm neben
ihr Platz.
»Vor einem Monat habe ich ihn zum ersten Mal gesehen. Er tauchte
immer wieder in dem Ort auf, wo ich wohne, in Paradise. Ob ich etwas einkaufen
ging oder bei Madame Delfine ein Kleid anpassen ließ – wenn ich aufblickte, war
er plötzlich da und starrte mich durch die Scheibe an. Zuerst dachte ich mir
gar nichts dabei«, erzählte sie Lucy. »Aber als ich ihn dann hier sah,
Francesca, hier ... er war mir den ganzen Weg von Texas bis nach New York City
gefolgt.«
»Hat er
schon früher Geld gefordert?«, wollte Francesca wissen. Lucy schüttelte den
Kopf. »Nein.« Dann stieß sie hervor: »Fünftausend Dollar! Solche Summen habe
ich nicht zur Verfügung. Shoz ist Rinderzüchter. Alles, was wir haben, steckt
in der Ranch.«
»Sie zahlen ihm überhaupt nichts«, entschied
Francesca energisch.
Lucy umklammerte ihre Hand. »Er hat mir mehr als einmal gesagt,
er sei ein Freund meines Mannes.«
Ihre Blicke trafen sich. »Was hat er sonst
noch gesagt?«
Lucy schüttelte den Kopf. »Nichts. Aber ... Sie müssen verstehen,
Francesca, als ich Shoz kennen lernte, war er ein harter, gefährlicher Mann.
Er hatte im Gefängnis gesessen. Zu Unrecht, wie ich betonen möchte, aber was
ändert das schon? Es hat ihn noch härter gemacht. Über das Leben, das er vor
unserer Ehe geführt hat, weiß ich nicht viel, und ich ziehe es vor, nicht darüber
nachzudenken.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Wir waren so glücklich«,
flüsterte sie. »Ich liebe ihn heute mehr denn je, und ich werde alles tun, um
ihn zu schützen!«
Francesca zögerte. »Ich habe Craddocks polizeiliche Akte gesehen.
Er war in Fort Kendall, Lucy.«
Lucy schnappte nach Luft. »Da war Shoz auch«, sagte sie ängstlich.
Francesca heuchelte keine Überraschung. »Ich weiß. Bragg hat es
mir gesagt.«
Lucy sprang auf. »Rick kann nichts davon wissen! Niemand darf
davon wissen! Es gibt Dinge in Shoz' Vergangenheit ... Dinge, die mir von jeher
Angst gemacht haben. Wir müssen diesem Craddock einfach das Geld geben, das er
verlangt, und ihn dazu bringen zu verschwinden!« Die Tränen rannen nun in
Strömen über ihre porzellangleichen Wangen.
Francesca stand ebenfalls auf. »Ich denke, wir sollten besser herausfinden,
warum Craddock überhaupt glaubt, er könne Sie und Ihren Mann erpressen.«
Lucy schüttelte den Kopf. »Ich werde die fünftausend Dollar
irgendwie auftreiben – Hart wird sie mir leihen!«
»Lucy, er wird wiederkommen und mehr verlangen. Dies ist ein Fall
für die Polizei. Bitte, vertrauen Sie mir«, drängte Francesca.
»Verstehen Sie denn nicht? Rick ist Polizist. Was wird er
tun, wenn er ein schreckliches Geheimnis aus Shoz' Vergangenheit entdeckt?«
Ihre großen blauen Augen ruhten eindringlich auf Francesca.
Diese schwieg einen Moment lang. Die
Möglichkeit, dass Lucys Ehemann eine kriminelle Vergangenheit haben könnte, war
ihr überhaupt noch nicht in den Sinn gekommen. Ebenso wenig hatte sie in
Erwägung gezogen, in welche Konflikte Bragg geraten würde, wenn er davon
erführe. »Aber Bragg hat mir gesagt, Shoz sei irrtümlich inhaftiert und später
begnadigt worden.«
»Das ist wahr. Aber
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