Brenda Joyce
gegenübertreten.«
Eine neue, andere Furcht erfüllte sie.
»Werden Sie ihn hindern?«
»Nein«, erwiderte er. »Wir wollen sehen, was er herausbekommt.«
Francesca traute ihren Ohren kaum. Im Geiste
sah sie vor sich, wie Hart Craddock zur Rede stellte und wie die Begegnung in
Gewalttätigkeiten ausartete. »Bragg, lassen Sie ihn nicht gehen.«
»Hart vermag für gewöhnlich Beachtliches zu
erreichen. Ich werde mich in der Nähe aufhalten, sodass ich ihm, falls nötig,
zur Hilfe eilen kann – oder Einhalt gebieten, je nachdem.« Seine Worte stellten
Francesca nicht zufrieden. Der Zug war nun zum Stehen gekommen. »Auch Sie
lassen ihn also die schmutzige Arbeit erledigen, für die Sie sich selbst zu
schade sind?«, stieß sie bebend hervor.
Braggs Antwort kam scharf wie ein Peitschenschlag. »Nein,
Francesca. Aber ich bin an den Buchstaben des Gesetzes gebunden, er hingegen
nicht.« Damit kehrte er ihr den Rücken.
Sie erstarrte – entgeistert, von widersprüchlichen Gefühlen erfasst,
hin- und hergerissen, was sie denken sollte. Sie zog ihn zu sich herum, damit
er sie ansah. »Es tut mir Leid. Das war ungerecht von mir.«
»Ja, allerdings«, versetzte er ruhig und blickte ihr fest in die
Augen.
In diesem Moment war Francesca klar: Um nichts in der Welt wollte
sie mit diesem Mann streiten. Sie lächelte ihm ein wenig zu, und endlich wurde
auch sein Gesichtsausdruck sanfter.
Durch das Fenster hinter Bragg kam der Bahnsteig in Sicht, die
weiß gekachelten Wände, die Fahrgäste, die einen Zug auf dem Nachbargleis
erwarteten, und die Schaffner und Gepäckträger in ihren blauen Uniformen.
»Peter holt uns an der Fourth Avenue ab«, sagte Bragg.
Francesca nickte.
Wenige Augenblicke später bahnten sie sich hastig einen Weg durch
die Menge der ausgestiegenen Reisenden. Bragg trug Francescas Reisetasche und
seinen kleinen Seesack. Sie durchquerten die riesige Bahnhofshalle, die erst
kürzlich fertig gestellt worden war, und traten durch die Schwingtüren aus
Metall und Glas ins Freie. Draußen schneite es vom verhangenen, düster grauen
Himmel.
Francesca entdeckte den Daimler als Erste. Er
stand zwischen zwei schwarz glänzenden Kutschen. Gleich darauf erblickte sie
Peter, der neben der Motorhaube des Automobils stand, die Hände in den Taschen
seines weiten schwarzen Mantels vergraben. Nicht weit entfernt gingen zwei
uniformierte Polizisten Streife. Plötzlich blieb Bragg wie angewurzelt stehen.
Francesca sah ihn an, bemerkte seinen entgeisterten Gesichtsausdruck
und folgte erschrocken seinem Blick.
Dort, neben Peter, stand eine auffallend
kleine, überwältigend schöne Frau. Sie hatte dunkles Haar, einen hellen Teint
und das Gesicht eines Engels. »Hallo, Rick«, begrüßte ihn seine Frau.
Bragg stand reglos da, noch immer sein Gepäck und das von
Francesca in den Händen.
Francesca hatte das Gefühl, ihr bliebe das Herz stehen. O Gott.
Dies war der Anfang vom Ende von allem, was ihr lieb und wert war, vom Ende
ihrer Liebe.
Bragg war gespenstisch bleich geworden. »Leigh
Anne?«
Ich hätte es ihm sagen sollen, schoss es Francesca durch den Kopf.
Schlagartig wurde ihr klar, dass sie den schlimmsten Fehler ihres Lebens
begangen hatte.
Leigh Anne kam lächelnd auf sie zu. »Du scheinst überrascht, mich
zu sehen, Rick. Wie geht es dir?« Sie blieb vor ihm stehen.
Francesca schätzte sie auf knapp über einen
Meter fünfzig – eine winzige, zierliche, makellose Porzellanpuppe mit meerwassergrünen
Augen und dichten schwarzen Wimpern. Sie legte ihm eine kleine, behandschuhte
Hand auf den Arm und reckte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen flüchtigen
Kuss auf das Kinn zu hauchen.
Bragg wich
zurück. »Natürlich bin ich überrascht.« Er lief rot an und befeuchtete seine
Lippen. »Leigh Anne, dies ist ...«
»Ich weiß.
Dies ist Miss Cahill.« Leigh Anne wandte sich Francesca zu und streckte ihr
die Hand entgegen. »Guten Tag, Miss Cahill«, begrüßte sie sie höflich, die
Augen groß und voller Unschuld. Nicht die Spur einer Anklage war darin zu
lesen.
Francesca
brachte kein Wort heraus – sie konnte nur mit Mühe atmen oder eher krampfhaft
nach Luft schnappen.
»Miss Cahill hat dich sicher bereits wissen lassen, dass ich nach
New York kommen würde?«, erkundigte sich Leigh Arme bei Bragg.
»Was?«
Sein Blick huschte zu Francesca.
Geduldig fuhr Leigh Anne fort:
»Ich habe Miss Cahill eine Nachricht geschickt. Sie hat dir doch gewiss davon
erzählt?«
Bragg starrte sie nur
entgeistert an,
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