Brenda Joyce
Furcht, vielleicht sogar Schuld.
»Nein«, log sie – das erste Mal,
dass sie ihn geradeheraus anlog. Sie stand auf. Calder Hart hatte mit alldem
nichts zu tun.
Es war Leigh Anne. Sie war der
Grund für Francescas Kummer, denn ihretwegen konnten sie und Bragg nicht
gemeinsam ein glückliches Leben führen.
Bragg umfasste ihr Handgelenk. »Es tut mir Leid«, sagte er in gequältem
Ton. »Es ist meine Schuld. Ich hätte dich fortschicken sollen ...«
»Nein!« Sie
wirbelte herum und legte ihm einen Finger an die Lippen. »Nein. Sag niemals,
dass es dir Leid tut, nicht zu mir. Du sollst dich niemals bei mir
entschuldigen.« Aber warum weinte sie nur? Tränenströme liefen ihr über das
Gesicht.
»Was ist,
was hast du?«, forschte Bragg zutiefst beunruhigt.
In diesem
Moment ging ihr die Wahrheit auf. »Du hast Recht, Bragg. Du hattest die ganze
Zeit über Recht.«
Er stand
heftig auf, die Augen groß und voller Besorgnis.
»Ich bin ganz verwirrt«,
flüsterte sie, bis in die Tiefen ihres Wesens erschüttert. »Ich liebe dich,
aber ...«
»Aber
was?«
»Aber ich
bin nicht bereit. Ganz einfach. Ich habe Angst.«
Kapitel 16
DIENSTAG, 18. FEBRUAR 1902 – 8 UHR
Der Zug
verlangsamte bei der Einfahrt in den Tunnel an der Ninety-sixth Street, und
gleich darauf wurde mit einem Schlag der Morgen zur Nacht. Francesca erhob sich
zögernd und trat ein wenig schwankend in die Tür ihres Abteils. Hatte sie in
der Nacht überhaupt noch ein Auge zugetan? Wohl nicht. Recht geschah ihr, sagte
sie sich.
Ihre plötzliche Verwirrung ängstigte sie, doch
sie war erleichtert, ihre ursprünglichen Absichten nicht zur Gänze
verwirklicht zu haben. Sie konnte noch immer Braggs Geliebte werden, jederzeit.
Sie wollte noch immer seine Geliebte werden, denn sie liebte ihn nun
einmal so sehr. Doch zugleich hatte sie Angst – Angst, weil er verheiratet war,
weil seine Frau sich mit ihr treffen wollte und weil es, wenn sie einmal den
schicksalhaften Schritt täte, kein Zurück mehr geben würde. Wie hatte ihr Leben
nur derart komplizierte Wendungen nehmen können?
Es kam ihr vor, als sei ihr Dasein ein einziges Chaos. Vielleicht
war es das tatsächlich.
Plötzlich glitt seine Abteiltür zur Seite, und ihre Blicke trafen
sich. Sie musste daran denken, wie er sie im Arm gehalten und berührt hatte –
eine Erinnerung, bei der ihr das Blut in den Kopf schoss und sie hastig die
Augen niederschlug. Doch zugleich ging ihr Atem bei dieser Vorstellung erneut
heftiger.
»Guten Morgen«, sagte er in einem Ton, als sei
nichts vorgefallen.
Seine völlig ruhige und beherrschte Stimme
überraschte Francesca. Auch sein Blick verriet keinerlei Regung. »Guten Morgen«,
erwiderte sie und hustete, denn sie war vor Anspannung so heiser, dass sie den
Gruß kaum herausbrachte.
»Geht es Ihnen gut?«, erkundigte er sich, wobei sein Blick unbeirrt
auf ihrem Gesicht ruhte.
Sie zögerte, dann setzte sie
ein allzu strahlendes Lächeln auf. »Es geht mir ausgezeichnet!« Gott, wie
gekünstelt das klang!
Er musterte sie ernst. Ihr Herz
krampfte sich zusammen. »Es geht mir beinahe gut«, ergänzte sie flüsternd.
»Ich habe völlig die Beherrschung verloren, Francesca. Es wird
nicht wieder vorkommen.« Seine Kiefermuskeln spannten sich an, und in seinem
Blick lag eine eiserne Entschlossenheit.
Sie wusste nicht, was sie sich in diesem Moment von ihm wünschte,
aber das Versprechen, sie nie wieder in die Arme zu schließen und zu lieben,
wirkte nicht eben beruhigend. Sie wollte widersprechen, brachte jedoch kein
Wort heraus – sie wusste einfach nichts zu erwidern.
Schlimmer noch, sie hatte nicht mehr das
Gefühl, dass es überhaupt so etwas wie eine einfache Lösung gab. Der Weg, der
vor ihnen lag, schien voller Sprengladungen, Fallgruben und Landminen zu sein,
von dem Gespenst seiner Frau gar nicht zu reden.
»Was letzte Nacht vorgefallen ist, war ganz und gar meine Schuld«,
hörte sie sich sagen.
Bevor er etwas erwidern konnte, rief der Schaffner: »Grand Central
Station. Letzter Halt, Manhattan. Grand Central Station! Letzter Halt!
Manhattan«
Die beiden wechselten einen Blick. Der Zug verlangsamte bereits
merklich.
Während der Schaffner weiter die letzte Station ausrief, brachte
Bragg endlich ein kleines Lächeln zustande, und Francesca begriff, dass er sie
trösten und beruhigen wollte. Doch sie war nun einmal weder getröstet noch
beruhigt – wie auch?
Er zog seine Taschenuhr hervor. »In zwei Stunden wird Hart
Craddock
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